Das Streben nach Allwissenheit und der Traum von der Allgegenwart

Zwei neue Bücher beschreiben die Welt als Bibliothek

Von Stefana SabinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefana Sabin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wenn es Abend wird, kehre ich heim und gehe in mein Studierzimmer," bekannte Machiavelli über seine Lektüregewohnheiten. Auch Alberto Manguel sitzt zu nächtlicher Stunde inmitten seiner Bücher: "[...] in der Nacht genieße ich das Lesen in der dichten Stille, wenn die Lichtkegel der Leselampe die Regale meiner Bibliothek spalten." Manguel, der in Buenos Aires geboren wurde, nach Toronto emigrierte und seit einigen Jahren in Frankreich lebt, beschreibt in seinem neuen Buch die Entstehung seiner eigenen Bibliothek von den ersten Bänden, die er als Jugendlicher erworben hatte, bis hin zu dem Bau, den er als renommierter Gelehrter in der französischen Provinz für seine inzwischen umfangreiche Sammlung errichten ließ. Die Bibliothek zeugt von seinem Lebensstil ebenso wie von seinem Lebensweg, von seinem Denken und seiner Weltauffassung - sie ist eine Art Autobiografie. Tatsächlich begreift Manguel jede Bibliothek als ein Porträt, sei es eines Individuums, sei es eines Kollektivs. Hatte er schon in seiner "Geschichte des Lesens" persönliche Erfahrung und die Diagnose der Gesellschaft zu einer Beschwörung jener Kulturarbeit verwoben, die das Lesen bedeutet, so benutzt Manguel in seinem neuen Buch die Selbsterzählung als Faden einer allgemeinen Geschichte der Institution, die dem Lesen gewidmet ist und somit das Gedächtnis nährt. Für Manguel ist die Bibliothek ein Symbol unserer Zivilisation.

Zu den mythischen Orten der abendländischen Zivilisation gehören der Turm von Babel und die große Bibliothek von Alexandria, und beide Orte stehen für zwei unmögliche Sehnsüchte: "die Sehnsucht, alle Sprachen von Babel zu vereinen, und die Sehnsucht, alle Bücher von Alexandria zu besitzen." Denn für den Autor ist die Welt kein Buch, wie in der mittelalterlichen Vorstellung, sondern viele Bücher - eben eine Bibliothek. Jedes Buch ist ein Versuch, die Welt zu verstehen, und jede Bibliothek ein Versuch, die Welt zu ordnen. So unternimmt Manguel eine Geschichte der Bibliothek als Wille und Vorstellung: Alexandria und der Glaube, das gesamte Wissen zusammentragen zu können; die verschiedenen Katalogisierungssysteme als intellektuelle und heuristische Orientierung durch die Wissenswelt; Fihrist und die bibliografische Zusammenfassung arabischer Wissenschaft; die Darstellung der Macht als Büchersammlung und die Ausübung der Macht als Zensur; die Formung und Bestätigung nationaler Identität in einer Nationalbibliothek; die Enzyklopädie als Geisteskind der universellen Bibliothek; Aby Warburg und das assoziative Büchersammeln; Borges und die fiktive Bibliothek; Robinson Crusoe und das Buch als Beginn der Zivilisation; Odysseus und die Bibliothek als Heimkehr; Theresienstadt und die Bibliothek als Mittel des Überlebens. Aus vielen teils historischen, teils literarischen oder auch autobiographischen Erzählstücken formt Manguel eine vielschichtige - und unterhaltende - Geschichte der "Gutenberg-Galaxie."

Seine Geschichte ist weder nostalgisch noch verklärend. Er weiß vom Nutzen der elektronischen Daten- und Textübermittlung, sieht darin aber auch eine Beliebigkeit, die die existentielle Sinnsuche, für die das Buch und die Bibliothek standen, geradezu irreführt. "Wie die Bibliothek von Alexandria das Symbol unseres Strebens nach Allwissenheit, so ist das Internet heute der Inbegriff unseres Traums von der Allgegenwart; aus der Bibliothek, die alles enthielt, ist die Bibliothek geworden, die alles Mögliche enthält." Die virtuelle Bibliothek, glaubt Manguel, kann die reale Bibliothek nicht ersetzen, weil die elektronische Technik "noch anfällig ist, sich schnell verändert und es oft unmöglich macht, Informationen abzurufen, die in nicht mehr gebräuchlichen Medien gespeichert sind." Manguels flüssig geschriebenes - und ebenso flüssig übersetztes - Buch ist ein Plädoyer für den herkömmlichen Akt des Lesens als einer assoziativen und aufklärerischen Handlung, die für unsere Kultur charakteristisch ist.

Zu unserer Kultur, meint Alexander Pechmann, gehören auch solche Bücher "die im Laufe der letzten Jahrhunderte durch Zufälle oder Unfälle, im Wahn, im Zorn oder mit kaltblütiger Absicht von Autoren, Verlegern, Erben, Anwälten, Pfaffen, Pädagogen, Tyrannen, Soldaten, Zensoren und Lesern vernichtet wurden, die Naturgewalten zum Opfer fielen, die an geheimen Orten versteckt oder in unverständlichen Sprachen und unentzifferbaren Schriften verfasst wurden, so dass sie von niemandem gelesen werden können."

Pechmann, in Wien geboren und in Heidelberg als Soziologe promoviert, hat die Geschichten solcher Bücher zusammengetragen. So erzählt er von einem Lederkoffer voller Manuskripte, der Hemingways erster Ehefrau am Pariser Bahnhof verloren ging; von den Probeabzügen der monumentalen Geschichte New Yorks von James Fennimore Cooper, die während eines Feuers im Verlagshaus zerstört wurden; von Blaise Cendrars' "Anthologie nègre", die während der deutschen Besatzung in Paris verschollen ging; von den Memoiren Lord Byrons, die seine Nachlassverwalter vernichteten; von dem Roman, den Joe Gould zu schreiben vorgab und nie geschrieben hat. Auch den fiktiven Büchern von Don Quichotte, dem vergifteten Buch von Dorian Gray, den brennenden Bibliotheken von Sarajevo und Weimar und der rätselhaften, weil unverständlichen Phaistos-Scheibe widmet Pechmann anekdotische Kurzgeschichten, die zusammengenommen das Bild einer buchbesessenen und buchbestimmten Gesellschaft vermitteln.

Wie für Manguel ist auch für Pechmann das Buch ein zivilisatorisches Moment; für beide stellt die Bibliothek das kulturelle - buchgewordene - Gedächtnis dar, das sich aus Erinnern und Vergessen und Wiedererinnern gleichermaßen konstituiert.


Titelbild

Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht.
Übersetzt aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
399 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783100487506

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Alexander Pechmann: Die Bibliothek der verlorenen Bücher.
Aufbau Verlag, Berlin 2007.
220 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783351026509

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