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Die Marketinggeschichte wirft einen ungewohnten Blick auf das 20. Jahrhundert

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man Naomi Kleins Attac-Bestseller "No Logo" Gauben schenkt, dann haben Marketingstrategen mittlerweile die Welt halbwegs übernommen. Kein öffentlicher Raum mehr, kein Bereich in Gesellschaft, Kultur oder Sport ist von den ökonomischen Eroberungsbemühungen verschont geblieben. Nicht nur Stadien, ganze Orte geben sich den Namen von Unternehmen, um davon zu profitieren - oder wenigstens zu überleben.

Wie anders klingt das in Hartmut Berghoffs einleitenden Bemerkungen zu dem von ihm herausgegebenen Band "Marketinggeschichte", in denen er die Funktion des Marketings für das ökonomische System beschreibt. Es verbinde die Produktionssphäre mit der Welt der Konsumtion. Es sei eine hoch komplexe Kommunikationsform, eine Sozialtechnik, deren Bedeutung kaum zu überschätzen sei. Der angemessene Platz des Marketing-Direktors sei im Vorstand, in der Geschäftsführung oder der Direktion, zitiert er eine Stimme aus den frühen 1960er-Jahren, als das Marketing in Deutschland seinen neuen Rang eroberte. Über Jahre hinweg hatte es nämlich als dubiose, aus den USA übernommene und kaum auf deutsche Verhältnisse übertragbare Manipulationstechnik gegolten, die sich nun anschickte, auch den alten Kontinent zu überschwemmen.

Anscheinend reichte die Schwemme nicht weit genug, denn Berghoffs Plädoyer, das sich im Wesentlichen zwar auf die Etablierung der Marketinggeschichtsschreibung richtet, lässt eben auch erkennen, dass diese amerikanische Erfindung bis heute nicht den Stellenwert hat, den sie verdiente (und in der Tat finden sich die Marketingleiter zumeist nicht in der Geschäftsführung wieder). Dabei ist unter Marketing weitaus mehr als pure Werbung, Reklame oder Propaganda (was auch nur ein alter Begriff für Werbung ist) zu verstehen. Marketing ist (was allen Marketingleuten hinreichend bekannt ist) jener Komplex von Techniken und Strategien, die dafür verantwortlich sind, Unternehmen, Institutionen oder Parteien, die in Massenmärkten agieren, auf die Interessen und Wünsche ihrer Kunden auszurichten.

Das ist allerdings ein völlig anderer Ansatz als er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgt wurde, als nicht die Kundenwünsche, sondern die Ausrichtung der Kunden auf das Angebot im Fokus der Aufmerksamkeit standen. Dahinter standen Theorien oder Konzepte, in denen es Parteien, Unternehmen oder Institutionen möglich sein sollte, die Massen zu manipulieren, zu steuern oder mindestens im gewünschten Sinne zu beeinflussen. Erst mit den verschiedenen Marktkrisen wie Marktumwälzungen des 20. Jahrhunderts und mit der Entwicklung von Instrumentarien, mit denen sich das Kauf- und Wahlverhalten eines Massenpublikums ermitteln ließ, gelang es, von den Manipulationstheorien zu lassen. Marketing heute versteht sich also - und das ist vielleicht das wichtigste Ergebnis des Bandes - als Markterschließungs- und Vermittlungstechnik.

Dafür war allerdings ein langer Weg zu gehen, insbesondere in Deutschland, dessen Marketinggeschichte hier in seinen wesentlichen Etappen vorgestellt wird. Berghoff hat dafür eine aufschlussreiche Struktur gewählt. Nach seinem Plädoyer für eine Marketinggeschichtsschreibung, die in Deutschland respektive im deutschsprachigen Raum noch in den Kinderschuhen stecke, folgen zwei Beiträge über die Entwicklung basaler Marketingstrategien und -techniken im 19. Jahrhundert. Allerdings wird bereits im Beitrag Alexander Engels über die "Transformation der Farbindustrie" erkennbar, dass die Industrialisierung eben nicht nur neue Techniken, industrielle Konglomerate und Organisationsformen erzeugte, sondern auch eine Neuausrichtung von Unternehmen und Märkte notwendig nach sich zog. Der Zwang der Unternehmen, Märkte genau zu beobachten, ist bereits hier deutlich - und das, obwohl bislang meist davon ausgegangen wurde, dass solche Marketingtechniken erst ein Produkt des 20. Jahrhunderts waren.

Das zeigt sich auch im Beitrag von Roman Rossfeld, der sich der Entwicklung und Ausrichtung der Schokoladenindustrie in der Schweiz am Ende des 19. Jahrhunderts widmet. Auf dieser Basis wurde das Marketing im Laufe des frühen 20. Jahrhunderts insbesondere in den zwanziger Jahren weiter entwickelt. Der Ruhm etwa eines Hans Domizlaffs, der besonders das Reemtsma-Erscheinungsbild maßgeblich bestimmt hat, steht dabei im Gegensatz zu der mangelnden theoretischen und empirischen Basis, auf der die damaligen Aktivitäten fußten.

Wie der Beitrag zur Bildung der Marke "Hitler" zeigt (Alexander Schug), sind die Anstrengungen in der Regel zwar konzeptionell fundiert. Zugleich sind sie aber mehr dem Prinzip "Trial and Error" verhaftet, als einer einigermaßen belastbaren Erfahrungs- und Wissensbasis. Das Bild, das Timo Jacobs jedenfalls von Domizlaffs Wirken zeigt, ist entsprechend zwiespältig. Den Erfolgen stehen zahlreiche Fehlversuche und lange Erprobungsphasen gegenüber. Die Marketingforschung und -lehre hat sich derweil jedoch von den konzeptionellen Ursprüngen weiter entwickelt und sich mehr und mehr verwissenschaftlicht.

Die Nähe zur Propaganda-Forschung, der jüngst noch Thymian Bussemer eine instruktive Studie gewidmet hat (2005 erschienen), ist nicht zuletzt durch Soziologen wie den aus Österreich stammenden und in die USA vertriebenen Paul Lazarsfeld erkennbar. Lazarsfeld gehört in den USA zu den Begründern einer empirischen Sozialforschung, die die Plausibilität auch von Marketingkonzepten empirisch belegen wollten und sich intensiv mit der Struktur von Käuferverhalten beschäftigten. Die Beiträge zu Marketingwissenschaft (Ursula Hansen und Matthias Bode), Käuferforschung (Günther Silberer und Oliver Büttner) und Werbewirkungsforschung (wiederum Silberer und Gunnar Mau) decken dabei den Gesamtbereich des akademischen Faches weitgehend ab.

Allerdings scheinen die strategischen Momente des Marketings in den Skizzen (auf die sich die Beiträge notgedrungen beschränken müssen) ein wenig in den Hintergrund zu geraten. Diese strategischen Aspekte treten aber in den beiden Beiträgen zur Transformation der Automobilindustrie in den 1970er-Jahren (Ingo Köhler) und in den Neuausrichtungen der Unternehmen Continental und Dachser (Paul Erker) in den Vordergrund. Obwohl, wie Anja Kruke in ihrem Beitrag zur Markt- und Meinungsforschung vermerkt, VW zu den frühen Nutzern von Marktforschungstechniken gehörte, geriet das Unternehmen offensichtlich aufgrund falscher Marketingentscheidungen in die Krise, aus der es sich durch eine radikale Neuausrichtung der Produktpalette und begleitende Maßnahmen zu befreien wusste. Die Exempel Continental und Dachser bestätigen die Bedeutung der Anpassung an sich ändernde Märkte.

Die Differenz zwischen industriellem und politischem Marketing wird in den abschließenden Beiträgen zur Marke "Hitler" (Alexander Schug), zur Markt- und Meinungsforschung (Anja Kruke) und zum politischen Marketing (Thomas Mergel) deutlich. Auch wenn die Etablierung Hitlers als Marke erfolgreich war und in der Werbewirtschaft auf Bewunderung stieß, auch wenn die Inszenierung von Politik eine immer größere Bedeutung hat, was sich am Exempel des "Medienkanzlers" Gerhard Schröder sicher zeigen ließe, bleibt es wohl kaum vorstellbar, dass sich Politik derart radikal an der Vermarktbarkeit von Ideen orientieren könnte, wie dies Unternehmen möglich ist. Allerdings ist das, und auch das ist in dem Band erkennbar, eine Entwicklung, die noch unabgeschlossen ist.

Zu bemerken bleibt allerdings ein auffallender blinder Fleck der Untersuchungen. Zwar arbeiten die Beiträger die Auswirkung von Markt- und Absatzkrisen auf die Neuausrichtung von Unternehmen heraus. Die Faktoren jedoch, die zu diesen, teilweise radikalen Änderungen, etwa in den sechziger und frühen siebziger Jahren führten, bleiben weitgehend ausgeklammert. Die enge Beziehung zwischen Wohlstandsgesellschaft, politischer Revolte und kultureller wie habitueller Umwälzung in der "Postmoderne" ist nicht Thema. Dafür bewegen sich die Beiträger zu sehr in den vielleicht allzu engen Bahnen des Marketings. Sie übersetzen dieses Phänomen eher in die Umkehrung von Zuteilungs- zu Angebotsmärkten, als über weiter gehende kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen zu reflektieren. Die Marketinggeschichte wirft so gesehen zwar einen anderen Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, zugleich aber wird sie einzubetten sein in eine umfassendere Kulturgeschichte, die sich freilich damit eben auch von ihrer allzu starken Orientierung auf künstlerische Phänomene lösen müsste. Dass Künstler auch Konsumenten sind und Konsumenten auch kulturelle Wesen, dass auch die Revolutionäre der 1960er-Jahre am Ende ihren Golf haben fahren wollen, sollte dabei auch kulturpessimistisch veranlagte Betrachter der Szene versöhnlich stimmen.


Titelbild

Hartmut Berghoff (Hg.): Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
409 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783593383231

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