Orphobismische Brustpastillen

Edward Goreys abstruse Geschichten bleiben ein Geheimtipp

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was machte das verabscheuungswürdige "loathsome couple"? Nachdem es sich im "Selbsthilfe-Institut während eines Vortrags über die Übel des Dezimalsystems" kennen gelernt hatte, und die Bemühungen um Geschlechtsverkehr zu nichts führten, machte es sich an sein "Lebenswerk": Sie entführten Irmi Klopstang und ermordeten das Kind eine Nacht lang "auf verschiedene Arten". Dann wurde die "Schmuddelei" weggemacht. Es nahm kein gutes Ende: Im Irrenhaus starb Alfred an seiner lebenslangen Erkältung, und Else leckte Flecken von der Wand.

Ein schön düstereres, kleines Büchel von vielleicht 30 Seiten, eine Seite ein Bild, eine Seite wenig Text. Etwas witziger sind die "Gashlycrum Tinies", die Kleinen, die alphabetisch von A ("A steht für Alma, zum Sturze ward ihr Lauf") und B ("B steht für Bruno, den fraßen Bären auf") bis Y ("Y steht für Yvonne, von einer Axt getroffen") und Z ("Z steht für Zenzi, die zuviel Schnaps gesoffen") und paarweise gereimt zu Tode kommen. Grandios die Geschichte "West Wing", in dem ohne ein Wort, ohne Hinweise eine gruselige Geschichte erzählt wird, in der jedes Detail bedrohlich wirkt, obwohl man nichts versteht. Und doch konstruiert man, sieht Geister und Tote, offene Türen und Verfall.

Der amerikanische Autor, Zeichner, Illustrator, Bühnen- und Kostümdesigner, Theaterautor und Buchhändler Edward Gorey studierte an der Harvard University Französisch, arbeitete von 1953 bis 1960 in New York als Autor und Illustrator für den Doubleday-Verlag und veröffentlichte 1953 sein erstes Buch, "The Unstrung Harp", ein Jahr später "The Listing Attic". Er experimentierte mit ungewöhnlichen Buchformaten, schrieb auch ein Pop-up-Buch und suchte ständig nach neuen Möglichkeiten, Text und Zeichnung zu verbinden. Mehr als hundert Bücher hat er geschrieben, meist kurze Erzählungen in Form einer Bilderfolge mit kurzen Texten als Prosa oder Gedicht. Und trotz dieser erstaunlichen Kreativität ist und bleibt Edward Gorey ein Geheimtipp. Jetzt kann man ihn endlich, endlich wiederentdecken: in zehn Heften mit zehn abstrusesten Geschichten, mit dem allerschwärzesten Humor, den man sich vorstellen kann. Im Krimi "The Other Statue", in dem es vor Hinweisen nur so wimmelt und nichts aufgeklärt wird, unter anderem spielt ein "mit orphobismischen Brustpastillen hausierender Zigeuner" mit, der dann plötzlich weg ist. Es treten in dieser Jane Austen gewidmeten Geschichte dann noch die Gouvernante Miss Underfold auf, die wartete, bis der "Earl of Thumb und Lady Emily Lispel in ihr Mittagsschläfchen fielen; dann stahl sie sich aus dem Kinderzimmer", Fenks, der Butler, Lady Flora, die den Marquess of Wherwithal auf der Veranda entdeckte, "wie er angestrengt gen Himmel blickte", und Augustus, dessen Stofftier plötzlich verschwunden ist. Es ist alles sehr geheimnisvoll, ständig erwartet man die Aufklärung all der seltsamen Begebenheiten. Aber sie kommt nicht. Auch wenn kleine Hinweise gegeben werden. Aber man versteht sie nicht: Sie ergeben keinen Sinn. Ein schöner Krimi!

Oder die ins poetische Nichts führende Geschichte von Drusilla, die ein wenig vergesslich war. Als Kind traf sie einen alten Mann, der ihr ein paar Papiere zeigen wollte, die er gesammelt hatte, und sie nahm sich vor, ihm Briefpapierfutter zu schicken. Erst sehr, sehr viele Jahre, als sie selbst eine alte Frau war, dachte sie wieder daran und suchte im Schrank danach. Aber da war er natürlich längst gestorben.

Das Schönste sind die druckartig schraffierten Schwarzweißzeichnungen, mit denen der so geniale wie absonderliche Gorey seine Stories erzählt, und die Atmosphäre noch mehr verdüstert. Mit vielen versteckten Details, mit einem surrealen, surrealistischen Humor, der die Welt erklärt, indem er sie verrätselt. Mit einer Ironie, die etwas unterkühlt wirkt, etwas viktorianisch, etwas böse, aber dennoch liebenswert. Weil sie eben das Böse nicht ausspart, sondern betont, ebenso wie die Abstrusität unserer Welt, der er eine eigene entgegensetzt, ein Paralleluniversum, das genauso verrückt ist wie unseres.


Titelbild

Edward Gorey: The lugubrious Library. 10 Hefte.
Übersetzt aus dem Englischen von Jörg Drews, Dieter E. Zimmer u.a.
Diogenes Verlag, Zürich 2007.
89,00 EUR.
ISBN-13: 9783257020915

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