Subversive Subjektpositionen versus sittsame Frauenbewegung

Caroline Bland und Elisa Müller-Adams geben einen Sammelband zur Politik in der Literatur deutschsprachiger Frauen zwischen 1780 und 1918 heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wie setzten sich Autorinnen mit dem (tatsächlichen oder potentiellen) Einfluss von Frauen auf die Gesellschaft als Autorinnen, Bürgerinnen, Ehefrauen und Mütter in Romanen, Zeitschriften, Reiseberichten, Briefen und Tagebüchern auseinander?" Dieser Frage gehen die Autorinnen eines von Caroline Bland und Elisa Müller-Adams unter dem Titel "Schwellenüberschreitungen" herausgegebenen Sammelbandes zur "Politik in der Literatur deutschsprachiger Frauen" von 1780 bis 1918 nach - und evozieren damit sogleich eine weitere Frage, die sich nunmehr allerdings der Rezensent stellt: als "Ehefrauen und Mütter"? Gut, aber wieso nicht auch als ledige und kinderlose Frauen? Sollte es in dem genannten Zeitraum etwa keine Autorinnen gegeben haben, die sich gegen Ehe und Mutterschaft entschieden? Vermutlich wohl doch. Und sicher haben sie eine eigene Perspektive zur "Vielfältigkeit des weiblichen Blickes auf die Machtverhältnisse des langen 19. Jahrhunderts" beigetragen.

Nun nennen die Herausgeberinnen im Vorwort zwar nur die Ehefrauen und Mütter, aber natürlich befassen sich die Beiträgerinnen auch mit den Werken unverheirateter beziehungsweise geschiedener Frauen. Ja, selbst mit denjenigen einer ledigen beziehungsweise geschiedenen Mutter mit einem unehelichen Sohn: Franziska zu Reventlow. Und dies sogar gleich mehrfach. Als einzige der behandelten Autorinnen gilt ihr nicht nur ein Aufsatz, sondern zwei.

Dies überrascht umso mehr, als die Schwabinger Bohémienne nicht gerade als dezidiert politische Autorin bekannt ist. Dass es allerdings sehr wohl gute Gründe gibt, ihre Werke unter dem Blickwinkel des vorliegenden Sammelbandes zu inspizieren, zeigen die Beiträge Katharina von Hammersteins, die am Beispiel von Louise Aston, Hedwig Dohm und Franziska zu Reventlow den "Ego-Dokumente[n] als politische[n] Stimmen zwischen Vormärz und 1918" nachgeht, und von Isabelle Stauffer, die sich für die "[t]ransgressive[n] Inszenierungen von Geschlecht" bei Anette Kolb und Franziska zu Reventlow interessiert.

Stauffers vergleichende Untersuchung konzentriert sich auf "drei untereinander verbundene Transgressionsmomente im Schreiben" Kolbs und Reventlows: die "Überschreitungen der binären Geschlechterordnung", die "Transgressionen der heterosexuellen Matrix" sowie schließlich das "Unterlaufen der Gattungsgrenzen zwischen politischem Essay und Roman".

Je eine Figur der beiden Schriftstellerinnen fasst Stauffer besonders ins Auge: Herr Dame, der den Titel von Reventlows wohl bekanntestem Roman "Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil" (1913) stiftete, und Mathias aus "Die Schaukel" (1934), der neben dem "Exemplar" (1913) und "Daphne Herbst" (1928) sicherlich zu Recht als einer von Kolbs drei wichtigsten Romanen gilt. An diesen Beispielen möchte Stauffer zeigen, wie Reventlow und Kolb "das Ineinandergreifen oder partielle Auseinanderklaffen von Geschlechtsidentität und Begehren" darstellen und welche "Techniken zur Thematisierung von Homosexualität (Abwertung, Verleugnung, Maskerade, Schweigen, Wissensverteilung)" die beiden Schriftstellerinnen jeweils verwenden. Nicht ganz so überzeugend wie für Kolb gelingt ihr das in Hinblick auf Reventlow. Stauffers zentraler Befund bleibt davon jedoch unbetroffen: Die "transgressiven Inszenierungen von Geschlecht" zeichnen sich bei beiden Autorinnen nicht zuletzt wegen ihrer "fiktive[n]" und "phantasievolle[n] Komponente" als "ästhetisch und politisch innovativ" aus.

Hammerstein betont, dass Reventlows "verschriftlichte individuelle Rebellion" nur "auf den ersten Blick nichts mit Politik zu tun zu habe", ihre Publikationen aber tatsächlich "tabuisierte Themen wie weiblicher Erotik, ledige Mutterschaft, schmerzhafte Kindheitserlebnissen in einem hierarchischen Erziehungssystem Problembereiche" berührten, die seinerzeit auch vom "radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung" diskutiert wurden. Während Alice Salomon ganz im Sinne des die Mehrheit bildenden gemäßigten Flügels verkündete, die Mutterschaft sei "am besten" dadurch zu schützen, dass man "die ledige Mutterschaft als Programm bekämpft", setzte sich Reventlow "über die Grenzen gesellschaftlicher Vorurteile und Bevormundung durch öffentliche Institutionen hinweg" und propagierte in ihren Schriften eine von ihr "privat gelebte, aber durch die Veröffentlichung zum Politikum erwachsene, subversive Subjektposition", wie Hammerstein in ihrem erhellenden Aufsatz sehr zu Recht betont. Reventlow, so Hammerstein weiter, "verlangt nach einer Frauenbewegung, die 'das Weib als Geschlechtswesen befreit' und sie 'freie Verfügung über ihren Körper' fordern lehrt". Dass sich Reventlow damit jedoch in Widerspruch zur "sittsamen, bürgerlichen Frauenbewegung" befunden habe, ist etwas unscharf formuliert und bedürfte einer auf deren gemäßigten Flügen zugespitzten Spezifizierung.

Die Aufsätze Stauffers und Hammersteins befinden sich im ersten und dritten Teil des dreigliedrigen Sammelbandes, dessen Beiträge sich zunächst "Schwellenüberschreitung[en] in der Geschlechterpolitik" widmen, sodann der Frage nachgehen, "inwieweit die Suche nach einer weiblichen, persönlichen Identität" für Autorinnen des Untersuchungszeitraumes eine "Grenzüberschreitung darstellt[e]" oder genauer, welche Grenzüberschreitungen in diesem Prozess nötig waren. Die Texte des letzten Teils untersuchen schließlich "Grenzüberschreitungen im wörtlichen Sinne". Insgesamt geht der Band auf eine internationale "Konferenz zur Literatur deutschsprachiger Frauen im 'langen' 19. Jahrhundert" an der Universität Sheffield zurück, enthält allerdings auch einige Texte, die nicht auf dort gehaltenen Vorträgen fußen.

Zu den zehn Autorinnen, in deren Beiträgen Reventlow keine Rolle spielt, zählen Julia Bertschik, die dem "Topos der Verkleidung" in der Spätromantik, insbesondere bei Caroline de la Motte Fouqué nachgeht, Elin Nesje Vestli, die "das Projekt Ehe" im Lustspiel der Prinzessin Amalie von Sachsen beleuchtet, und Anna Richards, die sich der "motherless heroine in the late eighteenth and nineteenth-century Women's novel" widmet.

Auch in Barbara Becker-Cantarinos Aufsatz findet die Münchner Boheme-Autorin keine Beachtung, widmet diese sich doch den "Diskurse[n] über weibliche Sexualität um 1800 aus der Sicht von Frauen". Sinnvollerweise haben die Herausgeberinnen ihren Text an den Anfang des Bandes gestellt. Nicht nur, weil er sich mit dem Beginn des Untersuchungszeitraumes befasst, sondern auch, weil er einige grundsätzlichere Überlegungen anstellt. Im Besonderen aber geht Becker-Cantarino anhand von Texten Therese Hubers "auf den Komplex gelebter Liebe und Leidenschaft als Diskurse über Sexualität in schriftlichen Äußerungen von Frauen um 1800" ein, um zu zeigen, wie Heterosexualität "in der Form von Liebe und Leidenschaft" in den damaligen Diskursen von Frauen erlebt und "in Kreativität mit teilweise religiösen Anklängen umgesetzt" wurde.

Wie die Autorin im weiteren überzeugend darlegt, war das "Muttersein" im seinerzeitigen Selbstverständnis von Frauen "weniger eine von der Gesellschaft aufgezwungene Pflicht als vielmehr ein wichtiger Aspekt weiblicher Sexualität". Auch trifft bekanntlich zu, dass der Tod einer werdenden Mutter - sei es während der Schwangerschaft oder weit öfter noch im Kindbett - ebenso gefürchtet wie häufig war. Doch dass Becker-Cantarino diese Todesart allein als "Folge weiblicher Sexualität" apostrophiert, lässt sich nicht nachvollziehen. Ganz ohne Zutun männlicher Sexualität wäre es wohl in keinem einzigen Fall zu besagter Folge gekommen.

Anders als Becker-Cantarino wendet sich Nancy C. Richardson mit Helene Böhlau einer Zeitgenossin Reventlows zu - einer zudem, die zumindest einmal noch um einiges radikaler als diese auftrat oder genauer gesagt: schrieb. Die Rede ist von ihrem Roman "Halbtier!" (1899), der sogar dem radikalen Flügel der Frauenbewegung zu radikal war - und später auch der Autorin selbst. Richardson hat über das von der Literaturwissenschaft zurecht als wohl provokativsten Roman seiner Zeit bezeichnete und nicht zu letzt darum auch heute noch lesenswerte Werk einen ebenso lesenswerten Aufsatz verfasst. Anhand eines close reading einzelner Passagen ihres Untersuchungsobjektes erkundet sie "the potrayal of female violence and the 'new woman'" und schlägt "some possible justifications" für das Verhalten von Böhlaus Protagonistin mit dem Namen Isolde vor.

Zu den wohl interessantesten Beiträgen zählt auch der ebenso genaue wie differenzierte Aufsatz der Mitherausgeberin Bland über die Literarisierung des Ersten Weltkriegs in Werken von Lily Braun und Clara Viebig, die sie anhand von Brauns "Lebenssucher" (1915) sowie Viebigs "Töchter der Hecuba" (1917) und "Das Rote Meer" (1920) beleuchtet. Bland liest die genannten Werke vor dem Hintergrund früherer politischer Auffassungen der beiden Schriftstellerinnen sowie im Kontext ihrer anderen "war-related" Publikationen. Bland zeigt, wie sehr "the images produced by Braun - the feminist-socialist - and Viebig - the liberal - run contrary to expectations". Während Braun ihre "earlier anti-warposition" revidierte und den Krieg "as an opportunity for much-needed renewal" begrüßte, erkannte Viebig ihn als "a tragedy which heralded an uncertain and dangerous future" und "found herself reconsidering the advocacy of sacrifice in the nations cause presendet in her previous novels".


Titelbild

Caroline Bland / Elisa Müller-Adams (Hg.): Schwellenüberschreitungen. Politik in der Literatur von deutschsprachigen Frauen 1780-1918.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2007.
293 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783895285790

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