Heimkehr ins Unheimliche

Leonard Olschners "Poetiksplitter" zu Paul Celan

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aufsatzsammlungen von Literaturwissenschaftlern können ein Ärgernis oder ein Glücksfall sein. Ärgerlich sind sie dann, wenn die Bücher nur der Zweitverwertung dienen oder - wie etwa im Fall Hans Mayers - immer dieselben Aufsätze in immer neuen Zusammenstellungen präsentiert werden. Hilfreich für den Leser sind sie dann, wenn sie die Möglichkeit bieten, an entlegenen Orten publizierte Beiträge eines Autors unter zwei Buchdeckeln vereint zu finden. Zum Glücksfall wird die Publikation dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Einzelstudien zu spezifischen Themen sich so ergänzen, dass sie exemplarisch zu einem umfassenderen Verständnis beitragen und "Anregungen zum Weiter-Verstehen" geben. Die Bezeichnung "Poetiksplitter" trifft dieses Verfahren sehr genau, weil sie den "Entwurfscharakter" betont und Olschner in seinen Aufsätzen keineswegs beliebig interpretiert, sondern Prämissen nennt, die man seiner Meinung nach beachten sollte, wenn man sich der Poetik Celans nähern will. "Die Funktion einer Poetik, die Celans Werk gilt", heißt es im Vorwort, "betrifft die Beschreibung erstens der besonderen Voraussetzungen und der aktuellen Bedingungen des Schreibens, zweitens der Funktion der Gedichttexte in der zeitgenössischen literarischen Kultur und drittens - am wichtigsten - der 'Gesetze' und Ursachen, die seinem Werk zugrunde liegen".

Olschner ist in der Celan-Forschung kein Unbekannter. Seine 1985 erschienene Arbeit "Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Lyrikübertragungen" setzte Maßstäbe und sensibilisierte erstmals dafür, dass Celans Übersetzungen ein wesentlicher Bestandteil seines dichterischen Gesamtwerkes sind. Von den neun im vorliegenden Band vereinten Aufsätzen, die zwischen 1991 und 2006 erschienen sind (bei zwei Beiträgen handelt es sich um Erstdrucke), aber alle überarbeitet und aktualisiert wurden, beschäftigen sich allerdings nur zwei mit Übertragungen ("Das Spiel der Spiegelungen. Celan und Rilke lesen Shakespeare" und "Sergej Esenin bei Paul Celan").

Aber auch in dem vielleicht bedeutendsten Aufsatz dieser Sammlung, in dem Olschner - heute Professor für Germanistik und Komparatistik am Queen Mary College der University of London - dem barocken Motiv der "Constantia", des Stehens und der Beständigkeit, in Celans Werk nachspürt, bezieht er das übersetzerische Werk mit ein. Wie er dies tut, bedächtig und mit analytischer Strenge, ist vorbildhaft, da sein Verfahren den Leser mitnimmt, ihn angeregt und bereichert zurücklässt. Gerne verzichtet man auf den in der Celan-Forschung weit verbreiteten "unreflektierten Parallelstellenrundschlag", den der Autor zu Recht kritisiert und ist dankbar, wenn man dazu aufgefordert wird, in einen Text nicht hineinzulesen, "was zwar tendenziell gegenwärtig, aber vorerst 'ohne/Sprache' ist". Solche Zurückhaltung tut gut und dient dem Verständnis der Celan'schen Poetik.

Ein zentrales Thema der Celan-Studien ist die "Poetik der Heimkehr", dem gleich die zwei einleitenden Aufsätze gewidmet sind. Sie spannen den Bogen 'Zwischen Heimat und Abgrund' und zeigen bei Celan die Heimat als Ort, der psychisch nicht mehr zu erreichen war, "weswegen dieser Ort als Erinnerung und als Begriff sich notgedrungen einer Verwandlung aussetzen musste". Diese Verwandlung führt ins Zentrum der Poetik Celans, "zum Begriff des Offenen und Besetzbaren und dessen, was im Prozess des Schreibens Sprache wird". Für Celan, der in seinen Gedichten den Opfern der Shoah gedenkt, findet Heimkehr "im Unheimlichen statt, da, wo man nie anders als ein Fremder sein kann".

Auch die 'Bremer Rede' (1958) Celans, der Olschner einen weiteren Aufsatz widmet, beginnt mit der Erinnerung an diesen Ort im Unheimlichen, an die Bukowina, jene "der Geschichtslosigkeit anheimgefallene ehemalige Provinz der Habsburgermonarchie", in die es für den exilierten Dichter keine Heimkehr mehr geben konnte.

Der unerwartete Hinweis auf Rudolf Alexander Schröder und vor allem auf Rudolf Borchardt, denen der Autor in seiner Analyse der Rede nachgeht, zeigt, dass trotz der Fülle an 'Sekundärliteratur' noch längst nicht alles gesagt ist und dass das "unaufhörliche Zusammenspiel von Leben und Tod" sowie das Verhältnis von Fremdheit und Nähe bei Celan immer wieder für überraschende und aufschlussreiche Beobachtungen sorgen kann.

Auch wenn es in einer Rezension nicht üblich ist, sollte man bei diesem anregenden Buch am Ende doch noch einmal den Autor selbst zu Wort kommen lassen: "Aber wir haben gesehen, dass einige einzelnen Zugänge - die illusorische Heimkehr, das andauernde Exil, die Hoffnung, die Beständigkeit, die verschiedenen Spiegelungen - Wege freilegen, die weiteres Fragen erlauben. Zu sagen bleibt noch viel." Dieser gelungenen Zusammenfassung hat auch der Rezensent kein Wort mehr hinzuzufügen.


Titelbild

Leonard Olschner: Im Abgrund Zeit. Paul Celans Poetiksplitter.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007.
180 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783525208540

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