Am anderen Ende des Teleskops

Eine Liebe aus Nichts: Katja Lange-Müllers Sucht- und Sehnsuchtsroman "Böse Schafe"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im letzten Herbst veröffentlichte Katja Lange-Müller einen mächtigen, bleischweren Roman. Eine wuchtige Aufarbeitung der Ost-Tristesse und der West-Tristesse und des Wende-Katzenjammers, ein großes 80er-Jahre-Buch über Junkies und schäbige Kneipen, speckige Typen und käsige Frauen mit schlimmen Frisuren. Eine Reise ins 'Miljö'.

"Böse Schafe" hieß das Buch, und der Schutzumschlag sah aus, als hätte er zwanzig Jahre in einer schmoddrigen Schreibkladde gegammelt. "Ein Stück literarischer Landeskunde", schreibt Iris Radisch, "Deutschland von unten aus betrachtet". Und sie klingt eklig öffentlich-rechtlich, wenn sie das Buch als "Portrait einer sozialen Klasse" lobt. Kein Spaß, nirgends: Glaubt man der Kritik, ist "Böse Schafe" pompöser, vulgärsoziologischer Ingo-Schulze-Kram. Wie gemacht für Buchpreise. Wie gedruckt für Leitartikel über "wichtige" Bücher im "Bücherherbst 2007". Bitte weiter. Bitte nicht.

Jetzt ist Frühling. Und 2008. Und da ist ein dünner Roman von Katja Lange-Müller. Er heißt "Böse Schafe". In der Eröffnungsszene liegt ein Ich auf einer Matratze und "schaut hoch, zum offenen Fenster, in dem sich nichts zeigt als ein Stück des wolkenlosen, weder hellen noch dunklen Himmels". Und gegenüber, ihr zugewandt, liegt ein Du. "Die Arterie über deinem Schläfenbein pulst gegen meine Wange". Das Ich nennt diese Szene Glück, ein "betörend undramatisches Glück". Und wo ist da Tristesse? Milieu? Das Anklagen und Wachrütteln? Die feuilletongerechten Gesellschafts-Aufrisse und -Durchleuchtungen?

Sagt das doch bitte künftig früher, Rezensenten! "Böse Schafe" ist ein Buch über Menschen (nicht: "Symptome") und Sehnsüchte (statt: "Pathologien"). Und Katja Lange-Müller zeichnet zwanzig Jahre alte Lebenswelten, ohne dass man sich dabei in eines dieser großformatig stilisierten "Wie funktioniert das eigentlich?"-Aufriss-und-Einblick-Kinderbuchpanoramen gestoßen fühlt: "Soja Edith Krüger, wohnhaft in Moabit, Birkenstraße 11", im Frühling 1987 knapp vierzig Jahre alt, erst ein paar Monate im Westen und schwer verliebt in einen dubiosen Harry, den sie an einem Nachmittag bei einem Gang zum Kiosk auf der Straße traf und der sie anhielt und fragte: "Mausepuppe, wohin geht's?".

Natürlich ist das auch Milieu. Natürlich ist das, aber hallo, auch Jargon, mit "Kontrollettis" und "arschklar", und Mädels, "die Locken zur 'Asipalme' hochgebunden", und manchmal strahlen sie "wie frisch gefickte Eichhörnchen". Im schlimmsten Fall ist es sogar Effekt, und davon nicht zu knapp: "Kaum richtig trockengerubbelt, setzte ich mich nackt an den Küchentisch, frisierte und schminkte mich vor einem Klappspiegel, den ich im Bad entdeckt hatte - und dorthin zurückzubringen vergaß, weil ich nervös war, so sehr, daß mir der Lidstrich mißriet und mein flüchtig gefönter, toupierter, hochgesteckter, von zuviel Haarspray klebrig-steifer Schopf aussah wie ein aufgeplatzter Polsterstuhl, ein gefrorener Ameisenhaufen, ein verlassenes Krähennest...". Das liest sich geschwätzig genau. Geschwätzig. Genau.

Zum großen, großen Glücksfall indes wird Lange-Müllers Buch, weil ihr das mies frisierte Ich (und auch ihr heißgeliebtes Harry-Du) nicht zu Sozialschablonen verkommen, zu faden Statthaltern aller Frisen und Floskeln der '80er. Es geht um kleine Leute und harten Tobak, Drogensucht und Aushilfsjobs, die Angst vor Selbstaufgabe, Kodependenz. Wenn Frauen zu sehr lieben. "Deutschland von unten"? Nein: "Unten. In Deutschland." Das ist was anderes; ein anderer Fokus. Ein Blick, der tausendmal weniger will. Und deshalb viel mehr sieht. Viel tauglicher, viel plastischer: Ein Ex-Knacki, eine pummlige Blumenhändlerin. Verkrachte Lebensläufe, die Lange-Müller nicht einfach einspannt, platt und hell unterm Vergrößerungsglas eines "Gesellschaftsstücks", sondern stehen lässt, für sich, am anderen Ende des Teleskops. Von oben ist so was immer: unten. Auf Augenhöhe aber sieht man: Welt. Und Mensch. Schlicht alles, was es braucht als relevanten Stoff.

"Dann kam der Tag, an dem sich nochmals vieles änderte, aber nichts besser wurde - und auch nicht so, wie meine hysterische Phantasie es sich ausgemalt hatte. Was wirklich geschah, war banaler und... entsetzlicher, schrecklicher, fürchterlicher? Ich weiß kein Wort dafür; alle, die ich kenne, sind stumpf und blind, abgenutzte Suppenlöffel." Wem es bis jetzt gelang, in Presse und im Internet den Spielverderber-Rezensionen zu entgehen, die alle dicken Enden des Buches gleich im Eröffnungsparagraphen rausposaunen, der kriegt - nach hundert Seiten ernstem, klugen psychologischen Roman - zur Halbzeit hart den Boden weggerissen unter Soja und Harry. Das ist der Punkt, an dem die Geschichte hässlich wird.

"Böse Schafe" schildert keine Liebe, sondern ein Lieben. Ein langes, haltloses Lieben. Gefragt, was "Das Jahr magischen Denkens", den Bericht über den plötzlichen Tod ihres Ehemannes, zum unerwarteten Bestseller werden ließ, antwortete Joan Didion: "Ich weiß es nicht. Ich hatte mir vorgestellt, das Buch würde Leser finden, die ein ähnliches Erlebnis durchgemacht hatten. Ich hatte nicht erwartet, dass es eine so große Leserschaft finden würde. Und eine so junge. Dann bin ich zum Schluss gekommen, dass die jungen Leser das Buch weniger wegen des Todes als wegen des Themas Ehe lesen." Susanne Meyer von der ZEIT fügt hinzu: "Vierzig Jahre Ehe, das muss für viele das wirklich besondere Erlebnis sein."

"Die meisten denken, das sei eine aufopferungsvolle, hingebungsvolle Liebe. Ist es nicht", sagte Lange-Müller über "Böse Schafe" in einem Werkstattgespräch der Uni Oldenburg. "Soja will gebraucht werden. Sie läuft herum, mit so einer Art Kaffeewärmer, und der Erstbeste, der ihr über den Weg läuft, der kriegt das Ding übergestülpt." Das zu nehmen. Und zu erzählen. Ohne "Schaut auf all die armen kleinen Leute!"-Überheblichkeit. Ohne "Seht auf unseren kleinen armen Kiez!"-Verklärung. Und ohne biografische Rotzfahne. Ein Ich und ein Du, "nicht Seite an Seite, dennoch Kopf an Kopf". Sachen, die passieren. "Schrecklich" wäre zuviel gesagt. Aber "schlimm" nicht genug.

"Ich schreibe ja relativ lange Sätze", erklärt Lange-Müller, "die deshalb lang sind, weil ich Wörter spare. In einem Brief, ich glaube, von Engels an Marx oder von Marx an Engels, heißt es: 'Entschuldige bitte, dass mein Brief so lang geworden ist, ich hatte keine Zeit.' Wenn man kurze Sätze macht, dann ist man zur Redundanz gezwungen. Wenn man hingegen sehr präzise, genaue, grammatisch gut konstruierte längere Sätze baut, dann sind sie letztlich sparsamer und auch artistischer. Sie sind schöner."

"Böse Schafe" ist ein kurzes Buch aus mittellangen, ziemlich schönen Sätzen. "Böse Schafe" ist ein scharfer Blick auf eine ziemlich reiche, konturierte Sehnsucht. Ein Roman, präzise und sparsam. Von ein, zwei doofen Sprachbildern mal abgesehen. Aber da beißt die Maus keinen Faden ab. Klappe zu, Affe tot; alles paletti. Aber hallo! Ein Zeitroman, viel ruhiger, kleiner als befürchtet. Literatur, viel größer als erhofft.


Titelbild

Katja Lange-Müller: Böse Schafe. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007.
200 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783462039146

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch