Certeau lesen

Der von Marian Füssel herausgegebene Sammelband "Michel de Certeau. Geschichte - Kultur - Religion" lässt den Leser gern zu den Primärtexten greifen

Von Christian LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angesichts der Machtübernahme der Maschinen ist nach Meinung des Medienaprioristen Friedrich A. Kittler der Rückweg zur Lebenswelt so versperrt wie angesichts wirbelnder Winde der Rückweg ins Jesuitenkolleg (siehe "Provisorische Maschinen, provisorische Moral"). Schlechte Karten also eigentlich für einen Jesuiten wie Michel de Certeau, von dessen der Alltagsüberlebenskunst gewidmetem Buch "L'Invention du quotidien" aus dem Jahr 1980 oft behauptet wird, es zeichne sich durch einen antitheoretischen Tenor aus.

Anders als bei René Descartes, auf den die Sätze Kittlers gemünzt sind, hat für Certeau allerdings das Schreiben seinen Ursprung in der Unmöglichkeit eines eigenen Ortes. Steile Thesen wie bei Kittler lassen sich bei ihm mithin nicht finden. Von daher kann Certeau entspannt lächeln - wie auf dem Foto, das den Titel des von Marian Füssel herausgegebenen Buches "Michel de Certeau. Geschichte - Kultur - Religion" ziert. Also doch gute Karten, selbst in Deutschland, wenn auch erst zwanzig Jahre nach seinem Tod.

Vielleicht kennt sich Certeau mit wirbelnden Winden und Wegen zu Jesuitenkollegs auch einfach besser aus als Kittler. Luce Giard erzählt in ihrem biografischen Porträt Certeaus jedenfalls von seinen langen einsamen Fahrradtouren, auf denen er sich von Brot und Käse ernährte und unter freiem Himmel schlief, um "außerhalb des eigenen provinziellen Milieus frische Luft zu schnappen". Dieser mit leichter Hand skizzierte Lebensumriss macht dem Titelfoto alle Ehre: sommerlich, im gestreiften Hemd, Ärmel hochgekrempelt, eine Hand in der Hosentasche, lehnt Certeau da ganz schön lässig an einer Mauer, die Haare im Seitenscheitel nach hinten gewellt, fast schon spitzbübig lächelnd. Kaum zu glauben, dass das Bild ihn nur fünf Jahre vor seinem frühen Tod (1986) zeigt.

Seitdem ist Michel de Certeau in Deutschland vor allem durch besagte "L'Invention du quotidien. 1, Arts de faire" bekannt geworden. Dieses Buch, in der deutschen Übersetzung Ronald Voulliés "Kunst des Handelns" genannt und bereits 1988 beim Verlag Merve erschienen, fehlt mittlerweile auf kaum einer kulturwissenschaftlichen Leseliste. Anders sieht es mit den anderen Texten Certeaus aus. Obwohl er im deutschsprachigen Raum vor allem in der Theologie rezipiert wurde, sind die Übersetzungen seiner theologischen Hauptwerke "La faiblesse de croire" (unter dem modischen Einworttitel "GlaubensSchwachheit") und "La fable mystique" immer noch erst angekündigt. Zu den Ursachen der verspäteten und schleppenden Aufnahme in Deutschland, wofür die fehlenden Übersetzungen ja nicht nur Grund, sondern auch Anzeichen sind, zählt der Sammelband unter anderem den literarischen Stil Certeaus. Dies ist sicherlich ein Grund - gerade französische Denker der letzten 50 Jahre mussten sich von deutschen Denkern wie Niklas Luhmann immer wieder eine "verdrehte Sprache", die nur für Literaten und Künstler interessant sei, und gar Perversität vorwerfen lassen.

Aber das ist nicht nur eine Stil-Frage. Der Vorwurf, anti-theoretisch zu sein, trifft eine heterologisch ausgerichtete Kulturanalyse, die sich gegen die Vorstellung wehrt, Ziel "sei die Produktion allgemeiner theoretischer Interpretationen, die dann auf jedes Beispiel anwendbar seien." (Rainer Winter) Certeau hält eher an der Singularität alltäglicher Praktiken fest, die mit den partikularen Umständen ihrer lokalen Kontexte verknüpft werden. Dabei fragt er mit den Worten Giards: "Comment saisir l'activité des pratiquants, comment aller a contrario des analyses sociologiques et anthropologiques? Il fallait avec nos faibles forces, et sans autre illusion que notre enthousiasme, ouvrir un immense chantier". Forschung mit schwachen Kräften, mit bloßem Enthusiasmus, um eine Baustelle zu öffnen - das ist vielleicht immer noch starker beziehungsweise schwacher Tobak für deutsche (Soziologen-)Nasen.

Gut also, dass bei der Konstanzer UVK Verlagsgesellschaft ein Sammelband zu Michel de Certeau erschienen ist. Als Ziel ist angegeben, mit Certeau neue Perspektiven und Fragestellungen entwickeln und einen Überblick über die Breite der inzwischen international betriebenen Forschung zu Certeau geben zu wollen. Der Herausgeber konnte dafür die bekanntesten Certeau-Forscher gewinnen - außer Luce Giard unter anderem Jeremy Ahearne, Daniel Bogner, Ian Buchanan, François Dosse und Ben Highmore.

Insgesamt wird über die Rubriken Geschichte, Kultur und Religion ein guter und weit gefächerter Einblick in das ebenfalls weit gefächerte Certeau'sche Werk und seine Bedingungen und Kontexte gegeben. Dabei zeichnen sich besonders François Dosses Einführung in die Certeau'schen Theorien zur Geschichte und Geschichtsschreibung, Jeremy Ahearnes Rückbindung einiger Bücher Certeaus an ihren Ausgangspunkt, nämlich die kulturpolitischen Forschungsprogramme der französischen Regierung ("Kunst des Handelns"), Daniel Weidners Vorschläge, was die Literaturwissenschaft vom Denken Certeaus haben kann, und Graham Wards Versuch einer Verortung Certeaus in der jesuitischen Suche nach Geschichte durch einen souveränen Umgang mit dem Gegenstand ihrer Aufsätze aus.

Doch auch wenn man Füssel für dieses Buch nur dankbar sein kann, ist leider einiges zu kritisieren. So hätten diesem Band, insbesondere ausgerechnet Füssels Einleitung, angesichts der vielen (Zeichensetzungs- und Rechtschreib-) Fehler zwei oder drei Korrekturlektüren mehr gut getan. Außerdem ist vielen Aufsätzen vorzuwerfen, dass sie Certeau erklären wollen, quasi mit Anweisungen an den Leser: Wie ist Certeau zu lesen, zu verstehen, wo ist er zu verorten? Von Schlüsseln und Zentren muss dann die Rede sein, und natürlich hat Peter Burke einen solchen Schlüssel zum Werk gefunden - den Prozess der Säkularisierung; und auch Daniel Bogner - die mystische Fabel; unangenehm wird es bei Ian Buchanan: An seinem Text kann man unschön sehen, was passiert, wenn ein Denker vor seiner Kanonisierung das Zeitliche segnet. Die wissenschaftliche Sekundärnachwelt steckt dann Claims ab und kämpft um Deutungshoheiten, wobei Buchanan aus dem Spiegelkabinett des Jacques Lacan nicht mehr herausfindet. Da tut es dann gut, bei Weidner die Hinweise darauf zu lesen, dass Certeau beispielsweise poststrukturalistische Theorieelemente eklektisch untereinander und auch mit ganz anderen Überlegungen kombiniert und hier also kein Dogmatiker spricht, kein Meister, und eben auch kein Lacanianer.

Das Bemühen, Certeau nicht falsch zu lesen, verstellt leider auch die Möglichkeit, mit ihm einige Punkte noch weiter zu denken. Was zum Beispiel ist dieses Andere, um das es Certeau - darin sind sich einige Leser einig - generell gehen soll, außer das Andere? Oder: Worin liegt das Freie, Eigene, Erfinderische der "Kunst des Handelns" der Verbraucher, wenn man es nicht nur behaupten will? Oft wird Certeau in Korreferaten bloß seitenlang nacherzählt, so dass man sich manchmal fragt, warum man gerade nicht einfach den Originaltext liest (was wirklich kein geringer Effekt eines Aufsatzsammelbandes ist!). Schon rein stilistisch wäre da die Lese-Freude meist noch größer.


Titelbild

Marian Füssel (Hg.): Michel de Certeau. Geschichte - Kultur - Religion.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2007.
372 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783896696281

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