Freiheit und Machtlosigkeit

Zu Zygmunt Baumans Studie "Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit"

Von Ulrike EhretRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Ehret

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den Augen von Zygmunt Bauman befinden wir uns am Übergang von der 'festen' Moderne, die ihr stärkstes Symbol in der 'fordistischen Fabrik' gefunden hatte, zur 'flüchtigen' Moderne, in der soziale Formen (Strukturen, Institutionen, traditionelle Verhaltensmuster) so schnell verfallen, dass sie schon geschmolzen sind, während sie noch geformt werden. In seinem Klassiker aus der Ära der 'festen' Moderne, dem "Kommunistischen Manifest", beschrieb schon Karl Marx wie sich unter den Errungenschaften der Bourgeoisie die alten Strukturen auflösten: "Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen."

Während diese Umwälzungen für Marx eine Befreiung von sozialen und ökonomischen Strukturen und damit die Selbstverwirklichung des Individuums bedeuteten, ist Baumans 'flüchtige' Moderne schneller, radikaler. Soziale Strukturen und Beziehungen verflüchtigen sich hier schon, bevor sie zu festen und stützenden Formen werden. Sie hinterlassen kein selbstbewusstes Individuum, sondern Verunsicherung und existenzielle Ängste. Baumans 'flüchtige' Moderne ist die heutige Konsumgesellschaft des schnellen Genusses. Er diskutiert seine These unter dem Aspekt der Globalisierung und ihre Folgen für nationale Politik und das individuelle menschliche Leben und Handeln. Im Zuge dessen streift er die politischen Brennpunkte unserer Zeit von George W. Bushs "Krieg gegen den Terror", über Elendsflüchtlinge und Langzeitarbeitslose als "menschlichem Abfall" in der globalen Wirtschaft, zur Gier des modernen Kapitalismus und dessen selbstzerstörerischen Prinzips des asset stripping. Ziel Baumans ist es nicht, Lösungen oder gar Handlungsanweisungen anzubieten. Schließlich sind nicht nur die Moderne und die Zeiten flüchtig, sondern auch, so Bauman fast etwas keck, seine Antworten. Alles was er verspricht, ist, das Verständnis für diese Umbrüche und die daraus gewachsene Ungewissheit zu erleuchten.

Der Kern von Baumans These ist seine Beobachtung, dass in den heutigen globalen 'flüchtigen Zeiten' Staaten ermutigt werden, immer weitere Funktionen an die Kräfte des Marktes abzugeben und der privaten Initiative ihrer Bürger zu überlassen. Für den Nationalstaat bedeutet dies, dass sein Handlungsspielraum erheblich eingeschränkt wird, da er immer weniger Kontrolle über die Auswirkungen der globalen Kräfte behält. Gleichzeitig bleibt Politik aber weiterhin lokal ausgerichtet, da globale Probleme (Giftmüll, Flüchtlinge, Arbeitslosigkeit) erst zur politischen Frage werden, wenn sie lokal wahrgenommen werden. Staatliche Institutionen verlieren durch diese Machtlosigkeit ihre Relevanz in den Augen der Bürger, die dem Staat immer weniger Aufmerksamkeit schenken. Um diesen Verlust an Legitimität auszugleichen, greift der Staat zu einer Neudefinition seiner staatlichen Aufgaben. Er zieht sich aus der Sphäre der Wirtschaft zurück und beruft sich auf die Notwendigkeit, sein gesellschaftliches Engagement auf die Stärkung der strafrechtlichen Intervention zu reduzieren. Er ist kein Sozialstaat mehr, der die Bürger vor dem sozialen Abstieg schützt, sondern ein Sicherheitsstaat, der vor Bedrohungen schützt, realen wie imaginären. Dieser Rückzug des Sozialstaates hat wiederum weitgreifende Folgen für den einzelnen Bürger. Dieser ist immer mehr den Unwägbarkeiten des Marktes ausgesetzt und damit den globalen Kräften, auf dessen Wirkungskraft er kaum Einfluss nehmen könne, um sich effektiv zu schützen. Durch den zusätzlichen Abbau solidarischer Organisationen (etwa Gewerkschaften) wird kollektives Handeln und gesellschaftliche Solidarität zunehmend unattraktiver. Der Wettbewerb des Marktes, so Bauman, fördere die Spaltung, nicht die Solidarität unter den Menschen; gleichzeitig sei die Gesellschaft nicht mehr Struktur, sondern werde zu einem Netzwerk von individuellen und sehr variablen Verbindungen. Individuelle Flexibilität wird zum besten Hilfsmittel erklärt, was natürlich die Verunsicherung und Ungewissheit noch weiter nährt. Hinzu kommen private Probleme, wie Vereinsamung und Machtlosigkeit.

"Flüchtige Zeiten" ist ein eindringliches Manifest eines empörten Zeitungslesers, der uns mit der sozialen Ungleichheit unserer Zeit, dem Abbau des Sozialstaates und dem Missbrauch der Macht wieder konfrontiert. Dazu gehören die Verletzung zahlreicher Bürger- und Menschenrechte in dem Sicherheitsstreben der Nationalstaaten im "Krieg gegen den Terror" und die Missachtung internationaler Institutionen und Rechte. Aber auch die immer größere Kluft zwischen Reichen und Armen wird von Bauman eindringlich beschrieben. Gerade die entwürdigende und hoffnungslose Situation der schwächsten unter den 'Zurückgebliebenen', der Flüchtlinge und Asylsuchenden, beschreibt Bauman mit historischem Weitblick. Ihr unwiderruflicher Ausschluss aus der Gesellschaft ist, laut Bauman eine der wenigen Formen des Dauerhaften, das die flüchtige Moderne zuließ. Eine Moderne, die diejenigen ausschließt, die keine sinnvolle Aufgabe mehr erfüllen können oder nicht assimilierbar scheinen. Der empörte Zeitungsleser und Humanist Bauman ist hier am wirkungsvollsten, wenn er uns den Zynismus der Politik wieder ins Gedächtnis ruft. Ein gutes Beispiel ist die Sicherheits- und Asylpolitik Großbritanniens, das oft genug als der vernünftige Juniorpartner an der Seite der USA im "Krieg gegen den Terror" gelobt wurde. Bauman erinnert hier zum Beispiel an den Vorschlag des damaligen Premier Ministers Tony Blair, afrikanische Auswanderer in Flüchtlingslagern in Tansania zu sammeln und sie somit von ihrer Suche nach einem besseren Leben in Europa abzuhalten. Natürlich versicherte er der Regierung Tansanias, dass Großbritannien sich durchaus an den anfallenden Kosten beteiligen würde.

"Flüchtige Zeiten" ist auch eine scharfe Polemik, mit der Bauman sicher eine Konsequenz dieser 'Flüchtigkeit' zu verhindern sucht: das Vergessen. Dennoch vermisst man an mancher Stelle den herausragenden Soziologen Bauman, der es versteht, die komplexen Verflechtungen von Interessen, Ängsten und politischer Macht darzulegen, die sich hinter solch profunden gesellschaftlichen Umbrüchen verbergen. So wird nie erklärt, wie genau die Globalisierung die Nationalstaaten dazu drängt, den Sozialstaat zu demontieren. Gesellschaftliche Veränderung scheint in "Flüchtigen Zeiten" auch zumeist von 'den politisch Mächtigen' auszugehen, und nicht von den Ängsten und Interessen verschiedener Gesellschaftsgruppen. So erklärt Bauman die Sicherheitsobsessionen der Regierungen damit, dass 'man' politisches und wirtschaftliches Kapital aus den diffusen Existenzängsten der Bürger ziehen möchte. Staatsregierungen hätten nur die nächste Wahl im Auge, und ergingen sich daher eher in kurzfristigen ad hoc-Kampagnen als langfristige Reformpläne oder politische Visionen zu verwirklichen, weil sie sich weigerten, den eigentlichen Ursachen der Ängste ihrer Bürger in das Auge zu blicken. Die soziologische Erklärung, die Bauman durchaus leistet, ist oft zu tief in der Polemik versteckt. Besser als eine 'Entlarvung' einer machiavellsche Manipulation der Bürger durch 'die Mächtigen', ist Baumans Hauptargument: die strukturellen Schwächen des Staates in den modernen 'flüchtigen Zeiten'. Gleichzeitig muss der Staat auf die populären Ängste und Forderungen der Bevölkerung reagieren. Bauman greift auf Norbert Elias zurück, wenn er auf die Quelle dieser Angst vor den 'Außenseitern' hinweist: der 'Außenseiter' erinnert den 'Etablierten', wie leicht auch sie aus ihrem vermeintlich sicheren Kokon herausfallen könnten.

In einem Interview mit der "Zeit" erklärte Zygmunt Bauman, dass er in den verschiedensten Gesellschaftssystemen mit ihren Hoffnungen und Ängsten lebte und daraus die Weisheit gewann, dass auf Erden keine gute Gesellschaft existiere. Bauman ist ein tiefgründiger Skeptiker des Fortschrittsglaubens, was er schon in seinem Werk zur Modernität des Holocausts eindrücklichst vorführte. Fortschritt ist für Bauman nicht die Verwirklichung der Utopien, sondern die Jagd nach Utopien. In der heutigen 'flüchtigen' Zeit scheint Fortschritt für Bauman vor allem zu bedeuten, im Rennen zu bleiben, um sich im Konsumgenuss immer wieder neu zu erfinden. Dennoch bietet Bauman etwas wie einen Hoffnungsschimmer in Hans Georg Gadamers Imperative der 'Verschmelzung der Horizonte', die diese 'flüchtigen' und einsamen Zeiten etwas menschlicher machen könnte, indem sie das Verstehen der 'anderen' und gemeinsame Erfahrungen ermöglicht. So ist sein kleines Buch ein 'flüchtiges' Manifest, das deutlich sein Bemühen zeigt, eine gute Gesellschaft darin zu schaffen, dass ihre schwächsten Mitglieder ein gelingendes Leben führen können.


Titelbild

Zygmunt Bauman: Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit.
Übersetzt aus dem Englischen von Richard Barth.
Hamburger Edition, Hamburg 2008.
168 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783936096927

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