Seiner Zeit böse sein

Von Rousseau bis Günther Anders: Georg Bollenbeck legt "Eine Geschichte der Kulturkritik" vor

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1958 tagte in München der I. Internationale Kulturkritikerkongress. Es sollte auch der letzte sein. Für reaktionäre Verfallsszenarien, wie sie in den 1920er-Jahren gerade in Deutschland für eine nach "Weltanschauung" dürstende Leserschaft in großen Auflagen produziert worden waren, versiegte nach dem Krieg der Bedarf rasch. Der Siegener Kulturwissenschaftler Georg Bollenbeck sieht darin eine Folge einer sich stabilisierenden Demokratie und Konsumgesellschaft. Sie entzogen der klassischen Kulturkritik, die zur Zeit der Aufklärung einsetzte und die sich auf die Zumutungen und Verlustgeschichten der Moderne konzentrierte, ihren wichtigsten "Resonanzboden".

Was es für Bollenbeck heute an ihrer statt noch gibt, ist eine Art allgegenwärtige partikuläre Dauerkritik. Das defizitäre Einzelne gilt nun nicht mehr als Beweis allgemeinen Zerfalls, sondern als "reformfähiges Einzelphänomen". Das fängt bei der Slow Food-Bewegung an und hört beim Klimaschutz auf. Die Klage über die zunehmende "Entfremdung" oder "Verdinglichung" des Individuums in der Moderne mag daher seit geraumer Zeit als antiquarisch gelten, ihre stimulierende Kraft jedoch ist noch immer lebendig. Selbst dort, wo dies zur Selbstprofilierung heftig bestritten wurde und wird. Wie etwa in der Soziologie, die sich früh von dem unakademischen, wilden, affektiven Denken eines Friedrich Schiller oder Friedrich Nietzsche distanzierte, sich aber von Ferdinand Tönnies bis zur Frankfurter Schule in der Rüstkammer kulturkritischen Denkens munitionierte, wie Bollenbeck überzeugend nachweist.

Gerade Schiller wurde mit seiner Utopie vom "ganzen" Menschen für die folgende Kulturkritik zum "heimlichen Souffleur", nicht zuletzt für Nietzsche, Max Scheler oder Georg Lukács. In Bollenbecks erhellendem und vorzüglich lesbaren Abriss avanciert der Weimarer neben Jean-Jacques Rousseau zum wegweisenden Vordenker der Kulturkritik. Für Bollenbeck, der neben den Wahrheits- und Geltungsansprüchen auch die Haltungen und Wirkungseffekte der "Diskrepanzphilosophen" (Günther Anders) aufzeigt, verbirgt sich hinter dem vagen Sammelbegriff "Kulturkritik" ein normativ aufgeladener "Reflexionsmodus der Moderne", der diese seit Mitte des 18. Jahrhunderts als provozierender Dauerkommentar begleitet. Ihre Repräsentanten sind meist akademisch randständige Dichterphilosophen, ihr Publikum die kulturräsonierende Öffentlichkeit, ihre größte Schwäche die Neigung zu alarmistischen Hypergeneralisierungen.

Überraschende Neugewichtungen finden sich auch an anderen Stellen: So wird Arthur Schopenhauers fundamentaler Pessimismus erst gar nicht zur eigentlichen Kulturkritik gerechnet, die das Dasein eben nicht generell verwirft, vielmehr die eigene Zeit unter Berufung auf bessere vergangene oder zukünftige Epochen verurteilt. Die Romantiker ästhetisierten das kulturkritische Potenzial Schillers oder Rousseaus zwar, verloren aber für Bollenbeck dabei den Kontakt zur Realität. Und fruchtbarer als die Technikkritik Martin Heideggers sei die Lebensphilosophie Ludwig Klages gewesen, die die Ökologiekritik des 20. Jahrhunderts vorbereitet habe. Ein Seitenblick auf Klages' Jugendfreund Theodor Lessing hätte an dieser Stelle sogar noch weitere Differenzierungen ermöglicht.

Kulturkritik ist für Bollenbeck ein internationales Phänomen mit nationalen Ausprägungen. Ihre deutsche habe zwar nicht zum Nationalsozialismus geführt, gehöre aber zu seiner Vorgeschichte. Bollenbeck, dessen besonderes Augenmerk den "Ambivalenzen zwischen diagnostischer Genauigkeit und antimoderner Verblendung" gilt, zeigt, wie die Kulturkritik eines Ernst Jünger oder Oswald Spengler in ihrer Absage an den neuen Bildungshumanismus ihre eigenen Sinnressourcen zerstörte. Was bleibt, ist eine Einsicht, die Robert Musil seinem Mann ohne Eigenschaften in den Mund legte: "Man kann seiner eigenen Zeit nicht böse sein, ohne selbst Schaden zu nehmen."


Titelbild

Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
318 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406547966

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