Glück, das sich wie Unglück anfühlt

Peter Stamms neuer Erzählband "Wir fliegen" schildert erstarrte Seelenlandschaften

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Autoren sind jene Spezies, denen die rettungslose Einsamkeit des Menschen bewusster ist als anderen. Sucht man für diese Behauptung Robert Musils in der Gegenwartsliteratur nach einer Bestätigung, fällt einem als erstes Peter Stamm ein. Füreinander unerreichbar und fremd bleiben sich alle Figuren dieses bemerkenswerten Erzählers, ob sie nun die Nähe eines Gegenübers suchen oder vor ihr fliehen. Am einsamsten freilich sind jene, die in Beziehungen leben.

So etwa Angelika in der eindrucksvollen Titelgeschichte von Stamms neuer Erzählsammlung, seiner dritten nach "Blitzeis" (1999) und "In fremden Gärten" (2003). Wie so oft bei dem Schweizer Autor ist es auch hier ein eher unspektakulärer Zufall, der seiner Protagonistin das offenbart, was der Alltag ihr bislang vergessen half, die Verfehltheit ihres Lebens. Eines Abends wartet ein Junge vergeblich auf seine Eltern, weshalb ihn die Kindergärtnerin mit zu sich nach Hause nehmen muss. Dort taucht bald auch ihr gut gelaunter Freund auf, der sich von dem "Zwerg" nicht den Spaß verderben lassen will, für den er gekommen ist.

Doch es ist bereits die bloße Anwesenheit des Jungen, die Angelika die ganze Tristesse ihrer Existenz vor Augen führt, sein titelgebender Taumel mit ausgebreiteten Armen ebenso wie seine kindliche Ungeduld. "Er hatte sie angeschaut, als sei sie schuld daran, dass seine Eltern nicht kamen. Ich mag ihn nicht, dachte sie. Eigentlich mag ich sie alle nicht", heißt es lapidar: Stamms stilistisches und motivisches Repertoire ist überschaubar, die Wiedererkennbarkeit seiner Werke groß. Ihr Suchtpotenzial freilich ebenso - auch in seinem neuen Buch erweist sich Stamm als der unübertroffene Maître der Lakonie und Ökonomie. Seine Sprache ist schmucklos und präzise; jeder Satz ein Treffer, jedes Wort am richtigen Platz. Eine verstörende Prosa mit verstörten Figuren.

Die meist das Falsche machen oder gar nichts. Die im entscheidenden Moment den Glauben an sich verlieren wie Heidi auf ihrer Fahrt nach Wien zur Kunstakademie. Mutlos steigt sie bereits in Innsbruck aus, um prompt ihrem zukünftigen Ehemann in die Arme zu laufen; gezeichnet wird von da an nur noch heimlich und voller Verachtung für ihren Mann. Anderen spielt ihre Sehnsucht Streiche: Bei Daphne in "Die Erwartung" sind es die ungewohnten Geräusche aus der Wohnung über ihr, die ihr Bewusstsein in ein überempfindliches Empfangsorgan für die Kunde von einem anderen Leben verwandeln. Nur dass sich der neue Nachbar mit der alleinstehenden Frau, die seine Mutter sein könnte, wohl nur aus Mitleid unterhält. "Als ich einmal eine seiner Hände auf meine Brust lege, lässt er sie einen Moment lang reglos liegen und zieht sie dann zurück. Er braucht Zeit, denke ich. Aber ich habe keine Zeit. Das sage ich natürlich nicht. Ich bin vorsichtig geworden, in dem, was ich sage. Ich beobachte ihn. Ich lausche."

Auffallend häufig werden Stamms vereinsamte Figuren von Paranoia und Angst heimgesucht. Der Protagonist in "Videocity" weiß sich als Hauptperson in einer Art "Truman-Show", umgeben von Kulissen und Statisten. Christoph, der Höhlenforscher, blieb einmal in einer Spalte im Fels stecken und fühlt seitdem den Berg auf sich lasten. Selbst auf sexuelle Offerten kann er seither nur noch mit Flucht reagieren ("Fremdkörper"). Auch Bruno, der Hotelrezeptionist, der eine Nachtschicht lang auf seine Diagnose warten muss (ein bereits aus Stamms letztem Roman "An einem Tag wie diesen" bekanntes Motiv) und froh ist, diese Zeit nicht bei seiner Frau verbringen zu müssen, gerät zunächst in Panik bei der Vorstellung, sterben zu müssen.

Dann aber schlägt die Angst um in einen rauschhaften Glückszustand. Dass solche profanen Epiphanien nur um den Preis des Alleinseins zu haben sind, ist eine Einsicht, die Stamms Personal mit Rainer Maria Rilkes Malte Laurids Brigge teilt. Wobei sich die vorübergehende Auflösung erstarrter Identitätsmuster meist im flüssigen Element vollzieht. Bruno taucht ebenso glücklich ins Wasser des Hotel-Pools ein wie Lukas in "Männer und Knaben", der ins leere Freibad einsteigt und sich dort der Fantasie hingibt, ein Mädchen zu sein. "Alles war sehr klar und oberflächlich. Es war eine Mischung aus Glück und Unglück. Es war Glück, das sich wie Unglück anfühlte."

Doch sind nicht alle der neuen Geschichten Stamms von gleicher Qualität. Die Reue des Architekten am Grab seiner Ex-Frau erscheint denn doch zu moralinsauer ("Das Alter"). Auch bleibt unklar, wohin der pseudomärchenhafte Ton führen soll, mit dem Stamm in "Kinder Gottes" von einem Pfarrer in Ostdeutschland erzählt, der anfängt, an eine Jungfrauengeburt zu glauben.

In der formal überraschenden Schlussgeschichte aber, einer Künstlergeschichte über den französischen Maler Jean-Baptiste-Camille Corot, einem frühen Impressionisten und Freilichtmaler, ist Stamm so etwas wie eine Charakterisierung seines eigenen Stils gelungen: "Dein Blick ist kalt, nicht gefühllos. Die Kälte des Blicks ist Bedingung. Du darfst nicht mitschwingen, wenn du klar sehen willst. Etwas mit kaltem Blick zu sehen heißt, nur noch ein Auge zu sein. Anders ist es nicht möglich, sich einzufühlen in eine Landschaft oder einen Menschen."

Auch Stamms Texte sind keine Wärmestuben für Harmoniesüchtige. Was seine Expeditionen in die menschliche Unterwelt ans Tageslicht fördern, sind traurigschöne Bilder zeitloser und zugleich ganz im Heute beheimateter Seelenlandschaften. Einige in Momenten der Erstarrung, andere, vielleicht, des Auftauens.


Titelbild

Peter Stamm: Wir fliegen. Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
174 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783100751287

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