Pirouetten ums Ich

Julia Franck liest ihren Roman "Die Mittagsfrau"

Von Sandra RührRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Rühr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Cover: Vier Personen auf einer Eisfläche. Die Atmosphäre: Kälte, Isolation, Unsicherheit. Zwei Frauen kehren uns den Rücken zu und betrachten etwas für uns nicht Sichtbares. Im Vordergrund zwei Jungen, der eine scheinbar das Spiegelbild des anderen. Während die Frauen sicher auf ihren Schlittschuhen stehen, wirken die Jungen unsicher, es sieht aus, als warte der eine auf das Vorwärtskommen des anderen, als animierten sie sich gegenseitig. Die Schatten der beiden Frauen verschmelzen zu einem, diejenigen der Jungen berühren sich nicht. Jungen und Frauen haben offensichtlich nichts miteinander zu tun. Alles ist in schwarzweiß gehalten, wie eine ältere Fotografie.

Im krassen Gegensatz dazu die heitere Schriftfarbe: Warmes Rot für den Namen der Autorin, fröhliches Orange für den geheimnisvollen Titel "Die Mittagsfrau". Was hat es mit der Mittagsfrau auf sich?

Sie begegnet dem Hörer erst im Verlauf der dritten CD und beschreibt eine geisterhafte, weiße Frau mit Sichel, die einer Lausitzer Legende nach denjenigen erscheint, die während der Mittagszeit arbeiten. Den Wahnsinn und den Tod durch diese Frau kann nur abwenden, wer ihr eine ganze Stunde lang von der Verarbeitung des Flachses erzählt.

Welche Gefahr möchte nun Julia Franck abwenden, wenn sie uns über sechseinhalb Stunden lang die Geschichte von Helene erzählt?

Als Peter sieben Jahre alt ist, nimmt ihn seine Mutter mit zum Bahnhof, damit "sie sich auf die große Reise machen, die Reise nach Westen." Peter verbindet große Hoffnungen mit dem geplanten Aufbruch. Der Krieg ist vorbei, nun kann alles nur besser werden. Doch stattdessen lässt ihn die Mutter alleine an einer Zwischenstation zurück, unter dem Vorwand, dass sie die Fahrtickets besorgen werde.

Hier ist sie wieder, die auf dem Hörbuchcover heraufbeschworene Stimmung: Der zurückgelassene einsame Peter, der erst am nächsten Morgen mit Gewissheit weiß, dass seine Mutter nicht mehr zurückkommen wird und um ihn das emsige Treiben am Bahnsteig, das nichts mit ihm zu tun zu haben scheint. Peter ist abgenabelt von der Welt, weil ihn seine Mutter ausgesetzt hat. Dies präsentiert sich dem Hörer als Prolog. Das Ende ist somit vorweggenommen, man weiß, worauf die Geschichte hinauslaufen wird.

Und man weiß nun auch, weshalb die Autorin diese Geschichte erzählt. Sie will den Fluch ihrer Vergangenheit, genauer der Vergangenheit ihres Vaters, Jürgen Sehmisch, abwenden. Auch er wurde 1945 von der alleinerziehenden Mutter auf einem Bahnsteig ausgesetzt. Seine Geschichte ist die Geschichte des kleinen Peters, sein Name steht Pate für den Namen, den Alice von ihrem Mann Wilhelm Sehmisch annimmt, um ihre jüdischen Wurzeln vor den Nationalsozialisten zu verschleiern.

Alice, geborene Helene Würsick, wuchs gemeinsam mit der neun Jahre älteren Schwester Martha in gutbürgerlichen Verhältnissen in Bautzen auf. Die Mutter hat sich nach vier toten Söhnen in ihre eigene Welt zurückgezogen und kann das jüngste Kind Helene nicht lieben. Stattdessen stürzt sie sich in eine wilde Sammelleidenschaft gebrauchter Gegenstände und Fundstücke.

Jeder in dieser Familie lebt in seiner eigenen Welt, und für jeden findet die Autorin ein spezifisches Bild: Die meist schlafende und zurückgezogene Mutter, der liebende Vater, die lesende Martha und die sich in Wollresten verlierende Helene. Helene scheint hier keinen Platz zu haben. Einzig mit der Schwester verbindet sie eine innige Nähe, eine Nähe, die an ein homoerotisches Verhältnis grenzt. Das Pfand für Sommersprossenzählen sind Wörter und Verse aus Marthas Büchern, die Gegenleistung ein Kuss.

Helene ist ein kluges Kind. Sie zählt nicht nur alles voller Leidenschaft, sie beginnt auch allmählich die Bücher des Vaters zu verschlingen. Ihren Traum, Medizin zu studieren, kann sie nicht ausleben, stattdessen arbeitet sie wie die große Schwester als Krankenschwester.

"Berlin, das sind jetzt wir!", ist Marthas Erkenntnis, als die beiden nach dem Tod des aus dem Krieg heimgekehrten Vaters bei der Berliner Tante Fanny leben. Während Martha mit der Tante das Nachtleben und den Rausch Berlins auskostet und ihre lesbische Liebe zur gemeinsamen Freundin Leontine auslebt, zieht sich Helene in die Welt der Bücher zurück.

Die "roaring twenties" erlebt sie als 19-Jährige in einem Club. Wie umgewandelt wirkt sie auf einmal, magnetisch scheint sie mit ihren Schultergrübchen die Männer anzuziehen. Hier lernt sie den Philosophiestudenten Carl Wertheimer kennen. Die abhanden gekommene Sprache zwischen ihr und der Schwester findet sie bei ihm in Gesprächen über Literatur und Theater wieder. Als Carl schließlich tödlich verunglückt, baut sie eine Mauer des Schweigens um sich.

Helene nimmt ihre Tätigkeit als Krankenschwester wieder auf. Das Gleichförmige, das Gebrauchtwerden und die Möglichkeit des Schweigens geben ihr Halt. Sie kehrt zu ihrem vorherigen Dasein zurück. Auf einer Party der Tante lernt sie schließlich Wilhelm kennen, einen Ingenieur, der sie Alice nennt.

Das gemeinsame Kind, das aus dieser Beziehung entsteht, den kleinen Peter, muss sie alleine groß ziehen. Die Wehen des Zweiten Weltkriegs gehen nicht spurlos vorüber: "Sie hatte weder Brot noch eine Stunde, ihr blieb gar nichts für das Kind." Und so beschließt Alice zu handeln - ihr Tun kennen wir bereits aus dem Prolog.

Tat sie es um der "Süße des Alleinseins" willen? Am Ende lebt sie wieder mit der Schwester in der Nähe Berlins zusammen. Nicht allein, aber einsam, betrogen um ihr Ich, ihre Persönlichkeit. Sie repräsentiert eine, möglicherweise, typische Biografie zwischen zwei Weltkriegen.

Die Buchvorlage erhielt 2007 den Deutschen Buchpreis. Das Buch wurde für die Eindringlichkeit der Sprache, seine poetische Kraft und seinen psychologischen Tiefgang ausgezeichnet.

Wie lassen sich Jazz-Rhythmen in die Sprache übersetzen? Julia Franck löst dies folgendermaßen: "Kein Ding und kein Lebewesen blieb von der Musik verschont. Sie ging durch sie hindurch, erfasste jedes Teilchen und wandelte in Bruchstücken der Zeit den Aggregatszustand des Raumes, der eben noch still und starr war, jetzt aber sich in einem Aufruhr befand, wie es Helene erschien, der nicht nur jedes Molekül und jedes Organ in Schwingungen versetzte, sondern die Hüllen der Körper wie auch die Grenzen des Raumes strapazierte, ohne sie zu sprengen." Solche Sätze sind es, die den Leser das Buch niederlegen lassen, damit er sie im Geiste nachhallen lassen kann. Die Verfasserin dieser Sätze liest auch das vorliegende, leicht gekürzte Hörbuch.

Autorenlesungen können entweder absolut fehlbesetzt sein, weil der Autor seinen Schreibstil nicht gut ins Akustische übertragen kann - oder aber sie sind die beste Lösung, weil sich das Werk nur vom Autor selbst mit sprecherischem Tiefgang interpretieren lässt. Bei der Hörbuchversion von "Die Mittagsfrau" handelt es sich glücklicherweise um letzteren Fall.

Julia Francks Stimme begegnet dem Hörer zunächst ruhig und sachlich, ja gleichförmig. Man hört der Autorin an, dass sie keine geübte Sprecherin ist. So werden manchmal die Satzenden nicht kenntlich gemacht und Dialogszenen nicht "ausgespielt". Dies mag aber auch eine "Übersetzung" des parataktischen Satzstils Francks sein.

Zugleich spürt der Hörer das Verständnis für die einzelnen Figuren. Helene/Alice wird nicht verurteilt, sondern ihr Handeln in einen größeren Kontext gestellt. Keine der Figuren ist glücklich, jede ist auf individuelle Weise einsam. Das Motiv der Einsamkeit, bereits angedeutet auf dem Cover, ist auch zu jeder Zeit im Timbre der Autorin zu hören. Mit trauriger Zärtlichkeit erzählt sie uns von Helene und gleichsam vom Schicksal ihrer eigenen Familie. Die Szenen, die dem Hörer schier den Atem nehmen, sind diejenigen, wenn Franck den Wahnsinn der Mutter, Helenes Trauer nach dem Tod Carls oder ihren Versuch, beim Pilzesuchen im Wald ihrem Dasein zu entfliehen in ihre Stimme legt. Man hört dort den Singsang des Wahnsinns, die Rauheit des Unausweichlichen und das Freudige der Hoffnung.

Der Hörer stützt mit seinem Zuhören die filigrane Stimme der Sprecherin. Er möchte ihr immer weiter zuhören, sie gleichsam mit seiner Ohrmuschel umschließen, auf dass sie nicht mehr verhalle.

Da Helene nie an die heilende Kraft des Zuhörens einer sie liebenden Person geglaubt hat, muss Julia Franck ihr eine Stimme geben und ihrer Persönlichkeit Ausdruck verleihen. Dies gelang nie einfühlsamer.

Die vier Personen auf der Eisfläche spiegeln Helenes ambivalente Identität. Die meiste Zeit versucht sie, auf der eisigen Fläche voranzukommen, ihrem Gegenüber nachzueifern. Am Ende blickt sie in eine ungewisse Zukunft.


Titelbild

Julia Franck: Die Mittagsfrau.
Gekürzte Lesung. 6 CDs / 397 Min.
Der Hörverlag, München 2007.
29,95 EUR.
ISBN-13: 9783867171533

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