Winterdämmerung in Deutschland
Erasmus Schöfer beendet seine Tetralogie mit Erinnerungen an Zeiten, als man statt für die Pendlerpauschale gegen Pershings auf die Straße ging
Von Heribert Hoven
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls 1989/90 der Kapitalismus über seine Konkurrenten siegte, glaubte man, dass nicht nur der real existierende Sozialismus, sondern gleich die gesamte Geschichte zu Ende sei. Heute können wir die anstehenden Probleme kaum mehr überblicken. Nicht nur, dass überall autoritär-diktatorische Modelle an Boden gewinnen, auch in der wiedervereinten Republik zerfallen die Volksparteien, und das Ansehen der Politiker kann tiefer kaum sinken.
Händeringend wird nach Visionen gesucht, mit denen sich Zukunft gestalten ließe. In dieser Situation kann die Rückbesinnung auf diejenigen Gestalten und Werte hilfreich sein, welche die Stärke der Demokratie in der Vergangenheit ausmachten. Rund 2.000 Buchseiten hat Erasmus Schöfer (Jahrgang 1931) darauf verwendet, die verschlungenen Entwicklungslinien der Linken und damit der Emanzipationsbewegung in der Bundesrepublik in seinem Spätwerk "Die Kinder des Sisyfos" zu beschreiben, von der Überwindung des Adenauerstaates bis zur Epochenwende 1989/90. Nachdem nunmehr der vierte und letzte Band des Romanzyklus mit dem Titel "Winterdämmerung" vorliegt, der die 1980er-Jahre behandelt, kann man sagen, die Arbeit des "Sisyfos", wie der Autor betont eigenwillig die antike Sagengestalt schreibt, hat sich gelohnt.
Obwohl Schöfer in "Winterdämmerung" streng der Jahreschronologie folgt und im Eingangsmotto mit Fontane gar dem "alten" Realismus huldigt, nutzt er die vielfältigen Möglichkeiten avancierten Erzählens, von der erlebten Rede über lyrische Einsprengsel, Tagebuch- und Briefpassagen, Rollenprosa bis hin zur Textcollage. Wenn hier die großen Ereignisse der 1980er-Jahre rekapituliert werden - Krefelder Appell, Aufkommen der Grünen, Michail Gorbatschow, Tschernobyl, Bitburger Friedhofsbegegnung und schließlich die sogenannte Wiedervereinigungsfeier am Brandenburger Tor - so vollzieht sich die Lektüre gleichsam als interaktiver Erinnerungsprozess. Indem wir den Wortführern und Randfiguren jener Jahre wieder begegnen, etwa Maxi Wander oder Petra Kelly, Horst-Eberhard Richter oder Robert Jungk, wird Schöfers Text zum historischen Roman.
Schöfers Personal, das wir im "Frühling irrer Hoffnung", wie der 2001 erschienene erste Band überschrieben ist, als Jugendliche in den Stürmen des Jahres 1968 kennen gelernt haben, ist inzwischen im gesetzten Alter. Der Betriebrat Anklam steigt in die Unternehmensleitung auf. Sein Freund Bliss, der verhinderte Lehrer, kämpft einen einsamen Kampf gegen seine Brandverletzungen und um kritische Solidarität mit seiner Partei, der DKP. Der stets hoch gestimmte Journalist Kolenda erlebt das schwere Verbrechen eines Freundes und versucht, das Böse zu begreifen.
Die Engführung persönlicher Schicksalsschläge mit den gesellschaftlichen Rückschritten der Helmut-Kohl und Ronald-Reagan-Ära und ihrer neoliberalen Wende verleihen dem Abschlussband zunächst eine melancholische Grundstimmung, die sich in der Kälte-Metaphorik des Titels zuzuspitzen scheint. Die Startbahn-West ist trotz heftiger Proteste nicht aufzuhalten, ebenso wenig wie die Stationierung der Pershing-Raketen. Auch der Niedergang der Ruhrindustrie und der daraus folgende Verlust der Arbeitsplätze lässt sich durch gewerkschaftliche Aktionen auf Dauer nicht verhindern.
Schöfer belässt es jedoch nicht dabei, die Niederlagen zu beklagen. In den Diskussionen seiner Protagonisten werden die verschlungenen Irrwege benannt und die Irrtümer auf den Punkt gebracht. So erklärt Ann, Bliss' unerwartet aus Amerika auftauchende Enkelin, die DDR zum potemkinschen Dorf und vergleicht die alternden Genossen mit den "Heiligen der Letzten Tage in Erwartung ihres revolutionären Messias, der Arbeiterklasse". Die junge Frau, die sich wie fast alle Frauenfiguten in Schöfers Romanen durch eine Mischung aus Gefühl und Härte auszeichnet, vor, wirft der gesamten Männerwelt vor, der Magie der Technik erlegen zu sein. Die sich daraus ergebende ökologische Katastrophe interpretiert sie als Selbstverlust: "Ich glaube eines Tages wird die Erde uns abwerfen, wie Ungeziefer."
Mit jugendlicher Frische zwingt sie ihren Großvater zu einer ehrlichen Bilanz. Dieser durchschaut, stöhnend "unter den Peitschenhieben seiner Gedanken", die Dialektik der Aufklärung und erkennt, "dass radikale Kritik produktiv, nützlich sein kann und der Zweifel am Dogma ins Offene führt". So entzaubert die dialogische Erzählweise Schöfers eine ideologisch festgefahrene Weltanschauung. Die programmatischen Gegensätze der Linken, akribisch und bisweilen etwas papieren protokolliert, sind längst durch die Geschichte überholt. Die privaten Gräben überwinden Schöfers Helden durch eine tiefe menschliche Sympathie, welche am Ende doch alle füreinander empfinden. Anders als die Widerstandsästhetik seines Vorgängers Peter Weiss und erzählerisch nicht ganz so kompromisslos, endet Schöfers Chronik nicht im Angesicht des Todes oder gar tragisch, sondern hoffnungsvoll und eher dem Phönix-Mythos verpflichtet. Gemeinsam besuchen die verschiedenen Generationen eine Kommune bei Kassel, wo in einer Genossenschaft ohne Führungsgurus alternative demokratische Lebensformen und damit die Kräfte der Utopie erprobt werden. Weil "Winterdämmerung" das Ende des Winters ankündigt, können alle Beteiligten schließlich die Freiheitsversprechungen des Jahres 1989 in einer großen, obgleich eher privaten Sylvesterparty feiern.
Wenn heutzutage die Wähler für die Pendlerpauschale mobilisiert werden, sollten wir uns daran erinnern, dass früher einmal Arbeiter und Intellektuelle gemeinsam gegen die Aufstellung von Pershingraketen und für die Einsicht gekämpft haben, "dass die Abschreckungsstrategie mit apokalyptischen Waffen in den Untergang" führen muss. Wer heute über die allgemeine Politikverdrossenheit klagt, sollte wissen, mit welchem Einsatz die "rebellischen Frauen" von damals für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung gekämpft haben - für Positionen also, die gegenwärtig oft leichtfertig einem reaktionären Zeitgeist geopfert werden. "Menschheitsziele wie Gerechtigkeit, Freundlichkeit, Freiheit können beschädigt werden durch die stalinistischen Bürokraten", die keineswegs ausgestorben sind, aber auch durch Resignation, Gleichgültigkeit und Dummheit, das lehrt Schöfers großer Zyklus, der zugleich ein wortstarkes Stück Aufklärungsliteratur ist. Er ist daher eigentlich nicht, wie der Untertitel nahelegt, ein "Zeitroman", sondern ein durchaus unzeitgemäßer Roman, für den es höchste Zeit wird.
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