In den Tiefen des Tunnels

Jan Bürger rekonstruiert Heimito von Doderers Lokaltermin in Lauffen am Neckar

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der gelbe Pergamin-Einband von Jan Bürgers Heft "Wie der vergessene Tempel einer Gottheit. Heimito von Doderer und der Kirchheimer Tunnel in Lauffen a. N." ist bekritzelt, so, als habe jemand in Gedanken, etwa beim Telefonieren, vor sich hingemalt. Aber so war es nicht. Es sind Heimito von Doderers Skizzen der beiden Lauffener Tunneleingänge, ganz klein, wie ordentlich nebeneinander gelegte Mauselöcher, aus denen sich je ein geschwungener Strich herauswindet. Oberhalb des rechten Löchleins deuten weitere Krakel wohl Wald an; das Ganze wird gehalten von einem halben Oval, das sich von oben schützend über die Skizze stülpt. Unter dem halbtransparenten Pergamin blitzen Schienen hervor, ein Tunneleingang (diesmal groß und fast bedrohlich) und ein heller Punkt an der Stelle, an der die Gleise perspektivisch zusammenlaufen. Und schon ist man mittendrin - in den Tiefen des Tunnels, in dem Conrads Schwägerin Louison ums Leben kommt. Conrad ist übrigens der Protagonist in Heimito von Doderers 1938 erschienenem Roman "Ein Mord den jeder begeht". In diesem beginnt Conrad neun Jahre nach Louisons Tod, den vermeintlichen Raubmord an ihr aufzuklären - nicht ahnend, dass er sich damit auch auf eine unbeabsichtigte Suche nach sich selbst begibt.

Um den Tunnel-Tod in seinem Roman so echt wie möglich zu gestalten, reiste Doderer im Oktober 1937 zu einem dreitägigen Lokaltermin nach Lauffen am Neckar, um vor allem den dortigen Kirchheimer Tunnel von innen und außen zu inspizieren. Genau dieser Lokaltermin wird in dem vorliegenden Heft rekonstruiert: In drei Abschnitten erzählt Bürgers Text vom Autor und von dem Roman, dessen erster Teil bereits fertiggestellt ist, als Doderer nach Lauffen kommt. Seine Quellen, Skizzen und Notizen werden dabei ebenso vorstellt wie einige Parallelen zwischen Doderer und seiner Hauptfigur Conrad. Den Höhe- und Schlusspunkt von Doderers Aufenthalt bildet das dreimalige Durchschreiten des Tunnels. Danach reist der Schriftsteller ab, und die Ergebnisse seiner Recherchen fließen nach und nach in seinen Roman ein.

Das mit 16 Seiten eher dünne Heft ist trotz der vermeintlichen Kürze voller Substanz, denn nicht nur Bürgers Text bietet ein dichtes Netz an Informationen, sondern auch die zahlreichen Abbildungen, die ihrerseits oft genug noch mit weiteren Texten aufwarten. Dabei darf von der Geschichte des Romans natürlich nicht zuviel verraten, aber eben auch nicht zuviel verschwiegen werden. Ein paar Wörter mehr wären schön gewesen, und einige zusätzliche Informationen auch, etwa die Anmerkung, dass "Dicke Damen" der Arbeitstitel des Buches ist, das später unter dem Titel "Die Dämonen" erschienen ist. Wenn das tadellos lektorierte Heft dann noch Raum für nörgelnde Rezensenten lässt, dann nur in den Bildunterschriften, bei denen ein einfacher Zeilenabstand ansprechender gewesen wäre.

Seit 1988 wird von der Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg die Reihe "Spuren" mit vier Heften pro Jahr herausgegeben, die literaturtopografische Spurensuche im südwestlichen Deutschland dokumentieren. Dabei stehen so illustre Namen wie Hermann Hesse, Marie Luise Kaschnitz, Friedrich Hölderlin, Eduard Mörike oder Paul Celan ebenso im Mittelpunkt der Recherchen wie unbekanntere Zeitgenossen, deren Lokaltermine aber deshalb nicht weniger interessant sind. Auf über 80 Hefte ist die Reihe mittlerweile angewachsen; es bleibt zu hoffen, dass sich noch viele weitere dazugesellen werden.


Titelbild

Jan Bürger: "Wie der vergessene Tempel einer Gottheit". Heimito von Doderer und der Kirchheimer Tunnel in Lauffen a. N.
Deutsches Literaturarchiv Marbach, Marbach 2008.
16 Seiten, 4,50 EUR.
ISBN-13: 9783937384429

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