Der Schriftsteller als wandelbares Wesen

Marcel Korolnik und Annette Korolnik-Anderschs Sammelband "Sansibar ist überall" präsentiert neue Forschungsergebnisse und Dokumente zum Leben und Werk Alfred Anderschs

Von Volker WehdekingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Wehdeking

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was diesen mit vielen Künstler-Beigaben aus der Familie Alfred Anderschs reizvoll illustrierten, im Deutschen Literatur Archiv (DLA) Marbach vorgestellten Bildband nicht nur für "Sansibar"-Leser wichtig macht, ist die Dokumentation des Historikers Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, zu den Inhaftierungen im KZ Dachau 1933 und zu den frühen 1940er-Jahren im Leben des Autors. Einige neue Umstände zu der Entlassung aus der Wehrmacht im Jahr 1941 (unter Berufung auf seine 'halbjüdische' Ehefrau, und die neuen Heeres-Regelungen dazu) waren denn auch Anlass zu einer kurzen Polemik zugunsten W. G. Sebalds von J. Döring und R. Seubert mit dem Titel: "Behält der Literaturpfaffe doch das letzte Wort?" aus der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) im August, ergänzt im Oktober, wogegen sich Uwe Wittstock in "Die Welt" äußerte. Hier erfährt man einiges Neues gegenüber der Biografie von Stephan Reinhardt. Der Ausdruck "Literaturpfaffe" stammt von Lothar Baier und war auf Sebald in den frühen 1990er-Jahren gemünzt.

Der opulente Bildband der Andersch-Angehörigen versucht also nicht, die notwendigen Korrekturen zugunsten des Autors strategisch zu 'schönen', kann aber vor dem Hintergrund eines abgeklärteren, sachlichen Umgangs mit solchen NS-Zeit-Viten, nach Neuem über Günter Eich, Günter Grass, Walter Jens und andere linksliberale Schriftsteller aus dieser schwierigen, für jeden Widerstand lebensbedrohlichen Zeit vor einem Neuanfang von 1945 auf mehr Verständnis hoffen. Tuchel summiert, dass Andersch die 'Neuerschaffung' seiner Persona nach 1945, "um sich selbst positiver darzustellen", mit vielen der Zeitgenossen teilt. Ihm ging es vor allem um den Rollenwandel unter dem Druck des Literaturbetriebs in den Folgejahren als mitgestaltender Schriftsteller, als Erich Kästner-Mitarbeiter in der "Neuen Zeitung" und Initiator der Zeitschrift der "Ruf" sowie der "Texte und Zeichen" unter dem neuen, seiner Flucht-Thematik entsprechenden, existenziellen Selbstverständnis unter dem Vorzeichen der Nähe zu den bewunderten Ernest Hemingway, William Faulkner, Jean-Paul Sartre und Albert Camus. Seine Kriegsgefangenenzeit in den USA nach seiner Desertion in Italien war prägend. Schriftsteller ändern sich und unterliegen alle der Selbstinzenierung im literarischen Feld (Pierre Bourdieu) und seinem Literaturbetrieb.

Unter den 24 Beiträgen des Bandes ragen die späten Einsichten zum Thema bei Hans Magnus Enzensberger und Jan Bürger zu den überraschenden Fiktionalisierungen und intertextuellen Bezügen im Roman "Sansibar oder der letzte Grund" heraus. Bezüge zu Heinrich Böll, Giorgio Bassani und Michelangelo Antonioni, dem Maler Italo Valenti und dem Komponisten Luigi Nono belegen einmal mehr, zusammen mit den Reisen, dem römischen Jahr und Expeditionen in die Polarregion die ins Europäische gerichtete Entwicklung des Nachkriegsautors, der im Jahr 1972 Schweizer Staatsbürger wurde. Die Darstellung der Freundschaften mit Max Frisch und Golo Mann geben dem Band zusätzliche Kontur und zeigen einen ebenso sensiblen wie sympathischen Schriftsteller. Herausragend ist auch die kleine Vignette des Schriftstellers Michael Augustin von der Kulturredaktion Radio Bremen, der sich in die amerikanische Lagerzeit zurückversetzt und Anderschs "Mein Verschwinden in Providence" mit großer Einfühlung fortschreibt. Entstanden ist eine geisterhaft komische Identifikation.

Die Rückkehr zur Debatte um das kulturelle Gedächtnis: Es geht immer um die moralischen Schwächen der Autoren während des Überlebens und sich Durchlavierens im Krieg, worüber die Nachgeborenen sich eigentlich (anders als Sebald in seinem Furor) nur sehr behutsam Urteile erlauben sollten, besonders, wenn das Scheitern einer Privatbeziehung (Anderschs erste Ehe) in dem kasernierten Dasein der Diktatur des "Dritten Reichs", die keinen Widerstand zuließ, dann ab dem Jahr 1943 unter Bombenteppichen und an der Front, immer in dem inneren Widerstand und in den schwierigen Anfängen einer deutschen Lost Generation im Krieg, Thema sind.

Andersch selbst war spätestens seit dem Distanz zu sich selbst schaffenden, römischen Jahr 1963 in seinen Erzählungen in "Ein Liebhaber des Halbschattens" und zum Holocaust-Thema seit 1967 in "Efraim" (begrüßt von Jean Améry), wo er sich mutig in die Perspektive des Opfers, einen jüdischen Emigranten und Intellektuellen versetzt, ein mit leisen Zügen des Humors und Selbstzweifels zu charakterisierender, engagierter Schriftsteller. Am Ende seines Lebens betonte er in der "Zeit" von November 1979, "dass auch Schriftsteller Wesen sind, die sich entwickeln". Es bleibt ein Rätsel, warum sich der seit den 1960er-Jahren bis 2001 als Germanist an der University of East Anglia in Norwich lebende Autor W. G. Sebald zu soviel Selbstgerechtigkeit in seinem Aufsatz in "Lettre International" 1992 (und nochmals in seiner Aufsatzsammlung zu "Luftkrieg und Literatur" (1999) hinreißen ließ. Daran kann ein nun neuerlich anders beleuchteter Versuch Anderschs nichts ändern, den Hitler-Staat seit seinem Dachau-Trauma zu überleben und ihn in die Nähe des angeblich innersten, verbindenden Geheimnisses der Gruppe 47, die doch aufklären wollte, zu rücken: nämlich ihre Verstrickung in das "Dritte Reich", wie Irene Heidelberger-Leonard in "Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47" schreibt, nichts ändern. Bei Sebald klingt die These zum "Fall Alfred Anderschs" (in der Vorbemerkung zum "Luftkrieg") so:

"Trotz der angestrengten Bemühung um die sogenannte Bewältigung der Vergangenheit scheint es mir, als seien wir Deutsche heute ein auffallend geschichtsblindes und traditionsloses Volk. Ein passioniertes Interesse an unseren früheren Lebensformen und den Spezifika der eigenen Zivilisation, wie es etwa in der Kultur Großbritanniens überall spürbar ist, kennen wir nicht. Und wenn wir unseren Blick zurückwenden, insbesondere auf die Jahre 1930 bis 1950, so ist es immer ein Hinsehen und Wegschauen zugleich. Die Hervorbringungen der deutschen Autoren nach dem Krieg sind darum bestimmt von einem halben oder falschen Bewusstsein, das ausgebildet wurde zur Festigung der äußerst prekären Position der Schreibenden in einer moralisch so gut wie restlos diskreditierten Gesellschaft. Für die überwiegende Mehrheit der während des Dritten Reichs in Deutschland gebliebenen Literatur war die Redefinition ihres Selbstverständnisses nach 1945 ein dringlicheres Geschäft als die Darstellung der realen Verhältnisse, die sie umgaben. Beispielhaft für die unguten Folgen, die der literarischen Praxis daraus erwuchsen, war der Fall Alfred Anderschs. [...] die Notwendigkeit der Adjustierung des Lebenslaufs durch diskrete Auslassungen und andere Korrekturen [war für Sebald] einer der wichtigsten Gründe für die Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren, das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis."

Diese einseitige Sicht der Dinge ist durch den anglo-amerikanischen Germanisten Stephen Brockmann in seinem Buch "Literature and German Reunification" von 1999 bereits zugunsten einer, wie er findet, beneidenswerten Eigenschaft der 'deutschen Kulturnation' korrigiert worden. Er weist gleich eingangs auf die Leitfunktion ihrer großen Autoren hin, anders als in Großbritannien etwa, die dazu führt, in ihnen intellektuelle Leitbilder und gar moralische Vorbilder zu sehen und sie zur Orientierung im kulturellen Gedächtnis ernst und wichtig zu nehmen: "the very vehemence of intellectual attacks on the political role of writers in Germany is an indication of the contiuing importance of German writers's in the nation's political life. [...] the mutual action and reaction of ,Geist' and ,Macht', of literature and politics, has helped form the picture of the Federal Republic.".

Uwe Wittstock hat nun in seinem Artikel über "Alfred Andersch im Dritten Reich" in "Die Welt" vom 19. September 2008 für diese Sicht der Dinge eine hilfreiche Relativierung des retrospektiven, moralischen Furors von Sebald vorgeschlagen. Autoren wie Andersch seien nicht nur die "Könige" des damaligen Literaturbetriebs gewesen, "sondern ebenso deren Opfer", denn selbst Nonkonformisten wurden untern dem enormen Druck zur Neupositionierung im Literaturbetrieb "zu Konformisten eines biographischen Moralismus'", der es immer schwerer machte, sich zu den oft nur minimalen Zugeständnissen an das Nazi-Regime zu bekennen.


Titelbild

Marcel Korolnik / Annette Korolnik-Andersch (Hg.): Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt in Texten, Bildern, Dokumenten.
edition text & kritik, München 2008.
255 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783883779379

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