Heilsversprechungen, Katastrophen und offene Utopien

Richard Saages Untersuchung des utopischen Denkens

Von Michael PauenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Pauen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach einem Jahrhundert, dessen Heilsversprechen zumeist in Katastrophen endeten, hat das utopische Denken keine gute Presse mehr - es steht im Verdacht, den Totalitarismus in der politischen Praxis zumindest gefördert zu haben. Utopien scheinen zu jenen "großen Erzählungen" (Lyotard) zu gehören, von denen wir uns auch in der Theorie mit guten Gründen verabschiedet haben. Mit dem Absolutismus der von ihnen formulierten Ansprüche setzen utopische Entwürfe offenbar jene Mechanismen der kritischen Überprüfung, Korrektur und Kompromissbildung außer Kraft, die konstitutiv sind für die politische Willensbildung moderner Gesellschaften. Es scheint, als wären diejenigen Kritiker im Recht, die das utopische Denken für rettungslos diskreditiert halten.

Richard Saage, Politologe an der Universität Halle und Autor zahlreicher Arbeiten zum utopischen Denken, hält dieses Urteil für vorschnell, setzt es doch fälschlicherweise die Tradition der autoritären Staatsutopien mit dem utopischen Denken insgesamt gleich und unterschlägt damit jene offenen und herrschaftskritischen Tendenzen, die dieses Denken nicht erst in jüngster Zeit ausgebildet hat. Der hier von ihm vorgelegte Band enthält zwölf zum großen Teil bereits publizierte Aufsätze, die in drei Gruppen zerfallen: Die erste konzentriert sich auf Fragen der Wirkungsgeschichte, in der zweiten stehen ausgewählte Entwürfe wie Fichtes "Geschlossner Handelsstaat" im Vordergrund, und schließlich geht es in der dritten und letzten Gruppe um die Aktualität des utopischen Denkens.

Saage grenzt die utopischen Staatsentwürfe zunächst von Versuchen ab, den Staat auf einen Gesellschaftsvertrag zu gründen, wie sie sich etwa bei Hobbes und Locke finden. Solche vertragstheoretischen Ansätze weisen dem Individuum in der Regel eine besonders wichtige Rolle zu. Sichtbar wird dies nicht nur am Akt des Vertragsschlusses, der auf den Interessen des Einzelnen gründet, sondern auch am Festhalten an dem Recht auf individuelles Eigentum sowie vielfach auch an dem individuellen Recht auf Widerstand, sollte der Herrscher den Gesellschaftsvertrag brechen.

Im Gegensatz dazu postulieren die klassischen Staatsutopien von Morus oder Campanella einen Primat des Ganzen. Sie schaffen das Privateigentum ab und unterstellen selbst persönliche Entscheidungen wie Ehe, Berufswahl oder Kleidung der staatlichen Autorität. Zudem erleichtert die streng normierte und transparente Architektur die Kontrolle über die einzelnen Individuen.

Entscheidend für die Argumentation Saages ist nun, dass es neben den autoritären Staatsutopien noch eine ganz andere Variante dieser Tradition gibt, die den utopischen Zustand als eine Befreiung von Mensch und Natur bestimmt. Unterstellt wird dabei, dass der Mensch ein ursprünglich gutes Wesen habe, das nur durch die gesellschaftlichen Institutionen verdorben worden sei. Konsequenterweise wird denn auch der möglichst weitgehende Verzicht auf diese Institutionen gefordert; selbst die Rechtssprechung werde auf Dauer überflüssig. Gleichzeitig soll es zu einer Befreiung der Sexualität und zu einer weitgehenden Emanzipation vom Zwang zur Arbeit kommen. In den frühen Ansätzen bleibt dieses Privileg allerdings einer kleinen Minderheit vorbehalten - Pech für die Masse der Handwerker und Bedienten, die dafür um so härter schuften müssen. Erst später, bei Wilde und Morris im 19. Jahrhundert, wird die Arbeit dann von Maschinen übernommen, die ihren menschlichen Herrschern damit ein sorgenfreies Leben ermöglichen.

Der ursprüngliche Gegensatz zwischen Vertragstheorien und utopischem Denken verringert sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts zusehends. Auf der einen Seite übernehmen Utopien wie die von Schnabel oder Mercier vertragstheoretische Elemente, andererseits gewinnen utopische Vorstellungen Einfluss auf die Entwürfe der Gegenseite. So übernimmt etwa Rousseau in seinem "Gesellschaftsvertrag" Elemente aus dem Bereich der nicht-autoritären Utopien, Fichte lehnt sich in seinem "Geschlossnen Handelsstaat" mit der Forderung nach rigoroser Planung und einer vollständigen Isolation des "geschlossenen" Handelsstaates von seiner Umwelt an die Staatsutopien an.

Einen wichtigen Schritt in der kritischen Distanzierung von der autoritären Staatsutopie vollzieht Jewgenij Samjatin mit seinem utopischen Roman "Wir". Das Werk lässt sich als Reaktion auf den Suprematismus von Malewitsch und El Lissitzky lesen, der in der Tradition der Staatsutopien steht. Samjatin entlarvt dessen totalitäre Tendenzen einfach dadurch, dass er sie zu Ende denkt. So wird der utopische Staat als eine totale Diktatur demaskiert, die Wissenschaft und Technik nach außen für ihre Eroberungen, nach innen zur Ausrottung der letzten Spuren von Individualität und seelischem Leben benutzt. Die Menschen tragen in Samjatins schwarzer Utopie anstelle des individuellen Namens eine bloße Nummer. Selbst die individuelle Phantasie hat mittlerweile den Argwohn der staatlichen Institutionen erweckt; diese bemühen sich, das "Problem" zu lösen, indem sie die entsprechenden Hirnzentrren kurzerhand operativ entfernen.

Ebenso wie Samjatin suchen auch Orwell und Huxley die strukturellen Defizite der autoritären Staatsutopien durch deren Selbstentlarvung deutlich zu machen. Mittlerweile ist diese Kritik längst zum Bestandteil des utopischen Denkens selbst geworden. An die Stelle der totalitären Staatsentwürfe sind bei Autoren wie Skinner, Le Guin oder Callenbach offene, "postmaterielle" Utopien getreten, die sich für die kritische Auseinandersetzung und Veränderung öffnen. Diese Theorien haben auch den traditionellen Antiindividualismus überwunden; die Macht ist nicht mehr in den Händen einiger weniger konzentriert, vielmehr soll möglichst allen die Möglichkeit der Partizipation gewährt werden.

Keineswegs ergibt sich hieraus ein Bruch mit dem utopischen Denken. Vielmehr können diese Theorien anknüpfen an nicht-autoritäre Tendenzen, die schon in der älteren utopischen Literatur zu finden waren, bevor sich die großen Vereinfacher und Propheten an die Verwirklichung dessen begaben, was sie für den realen Kern des utopischen Denkens hielten. Heute spielt das Bemühen um Öffnung und Kritik des utopischen Denkens vor allem in feministischen und ökologischen Entwürfen eine Rolle.

Bemerkenswerterweise lässt Saage einen wichtigen Kronzeugen für die offene Utopie außer acht, nämlich den jungen Bloch - also nicht den Autor des späten "Prinzips Hoffnung", sondern den jungen Verfasser von "Geist der Utopie" (1918). Während Bloch später eine verhängnisvolle Sympathie mit dem Totalitarismus erkennen lässt, und zwar selbst dann, wenn dieser die Gestalt der Stalinschen Schauprozesse annimmt, stellt die Utopiekonzeption des Frühwerks ein geradezu paradigmatisches Beispiel einer "offenen" Utopie dar. Der junge Bloch wendet sich nicht nur ganz entschieden gegen jede Festlegung des utopischen Zustands, sondern fordert auch eine Zurückdrängung der staatlichen Institutionen und stellt gleichzeitig das Subjekt und dessen konkrete Bedürfnisse in den Mittelpunkt seiner Konzeption.

Insofern kann Blochs Frühwerk auch einen Anknüpfungspunkt für die Frage nach der Bedeutung utopischer Entwürfe in der Gegenwart bieten. Saage zeigt, dass hier vor allem zwei Punkte Beachtung verdienen. Zum einen sind utopische Entwürfe Zukunftsszenarien, in denen sich die Konsequenzen bestimmter Annahmen oder Prinzipien in der Imagination durchspielen lassen. Sie ermöglichen damit die Selbstverständigung einer Gesellschaft über ihre eigenen Zielvorstellungen, aber auch über den Aufwand, der hierfür getrieben werden soll. Wollte man auf solche Szenarien und die in ihnen zum Ausdruck kommenden Zielvorstellungen verzichten, dann liefe man Gefahr, sich den gegenwärtigen Entwicklungstrends und den darin wirksamen Sachzwängen mehr oder minder bedingungslos auszuliefern.

Die einzelnen Aufsätze des Bandes sind gut strukturiert, die Sprache klar und unprätentiös. Sieht man einmal von einigen zum Teil etwas lästigen Überschneidungen und Wiederholungen in den einzelnen Aufsätzen ab, dann bietet Saages Sammlung einen guten Einblick sowohl in die systematischen Grundzüge des utopischen Denkens wie auch in seine Geschichte. Dies gilt um so mehr, als sich der Autor nicht mit den "Innenansichten" zufrieden gibt, sondern zuweilen auch einen Blick auf das Umfeld des utopischen Denkens wirft, etwa auf die Idealstadtentwürfe der Frührenaissance, auf utopische Tendenzen in der Landschaftsarchitektur des 18. Jahrhunderts und schließlich auf das Verhältnis von Utopie und Science-Fiction. Gleichzeitig ist das Buch von Interesse auch für die Auseinandersetzung mit der Rolle des utopischen Denkens in der Gegenwart, eine Auseinandersetzung, die immer noch an der Gleichsetzung von Utopie und Totalitarismus krankt. Saages Bestehen auf einer Differenzierung zwischen den autoritären Staatsutopien und den offenen, kritischen Utopien ist systematisch und historisch überzeugend. Es kann daher die gegenwärtige Diskussion vor dem Irrtum bewahren, nach dem Ende des Stalinismus sei automatisch auch das utopische Denken obsolet geworden.

Titelbild

Richard Saage: Innenansichten Utopias. Wirkungen, Entwürfe und Chancen des utopischen Denkens.
Duncker & Humblot, Berlin 1999.
228 Seiten, 65,40 EUR.
ISBN-10: 3428096606

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