Ein Erdbeben als Anfang vom Ende der Aufklärung?
Ein interdisziplinärer Band zum 250. Jahrestag der Katastrophe von Lissabon
Von Christoph Willmitzer
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Das 18. Jahrhundert verwendet das Wort ,Lissabon' etwa so, wie wir heute das Wort ,Auschwitz' verwenden." Dieses Diktum von Susan Neiman wird in "Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert", herausgegeben von Gerhard Lauer und Thorsten Unger, gleich mehrfach zitiert. Der 2008 im Wallstein Verlag erschienene Sammelband zeichnet sich durch eine beeindruckende Interdisziplinarität aus: von der Geologie bis zur Lusitanistik decken die verschiedenen Beiträge ein weites Feld ab.
Im Zentrum steht die geistesgeschichtliche Krise, die Europa in Folge des Erdbebens in Lissabon am 1.11.1755 erfasste. Die Gewalt der Natur erschütterte die Grundfesten der vernunftgläubigen und optimistischen Aufklärung. Insbesondere wurde durch die Katastrophe am Allerheiligentag eine philosophisch-theologische Theodizeedebatte ausgelöst. Gleichzeitig soll im Sammelband die These einer sich hier ergebenden Krise der Aufklärung hinterfragt werden. Den Aufstieg der Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert etwa konnte das Erdbeben sicherlich nicht aufhalten, ganz im Gegenteil. Außerdem zeigen die Autoren auf, dass geistesgeschichtliche Brüche, zumindest in der retrospektiven Deutung, oft mit Naturkatastrophen in Verbindung gebracht wurden.
Ein "Mythos Lissabon" wird damit etwas relativiert. Vergleiche mit Erdbeben in Kalabrien, Sizilien oder Lima sowie der Blick auf Naturkatastrophen in Nordamerika und Neapel schärfen den Blick für die Normalitäten wie Besonderheiten des Erdbebens von 1755 noch einmal. Nicht nur eine seiner bekanntesten literarischen Verarbeitungen, Voltaires Roman "Candide ou l'optimisme", zeigt die Verankerung Lissabons im kulturellen Gedächtnis der westlichen Welt. Der Einfluss auf eine Ästhetik des Hässlichen im Ausgang der Aufklärung ist nur eine der bemerkenswertesten Folgen dieses Naturereignisses.
Im Gefolge der einzelnen Beiträge führt Stefanie Arend in das Thema der "Katastrophendiskurse" historisch schon bei Seneca und Plinius ein. Dabei macht sie auf eine bestimmte Technik des Sich-Verhaltens aufmerksam, die in Texten bis hin zu Opitz und eben Voltaire ausgebildet wird: Die Natur wird zum reinen Objekt degradiert, "um von der Furcht abzulenken". Dass Versuche der Naturbewältigung in geschlechtertheoretischer Hinsicht zudem "as attempts to penetrate and exploit a feminine nature" beschrieben werden können, führt Alessa Johns aus.
Monika Gisler beschäftigt sich in ihrem Beitrag zur frühen Rezeption von Voltaires "Poème sur le désastre de Lisbonne" dann bereits mit zeitgenössischen Reaktionen auf das Desaster von Lissabon, unter anderem von Rousseau und Haller in seinem Gedicht "Über den Ursprung des Übels". Wie Gisler widmet sich auch Ewa Mayer einem bislang eher weniger beachteten Aspekt der Rezeptionsästhetik, wenn sie die Auswirkungen Lissabons auf Voltaires Tragödien(-konzept) nach 1755 erörtert.
Medienwissenschaftliche Perspektiven sind in dieser Aufsatzsammlung stark vertreten: Jürgen Wilke untersucht "Das Erdbeben von Lissabon als Medienereignis", von Matthias Georgi wird noch einmal gesondert die Widerspiegelung der Katastrophe in der englischen Publizistik betrachtet. Christoph Weber stellt in einem Beitrag die Reaktionen deutschsprachiger Autoren auf "Lissabon" dar.
In einzelnen Beiträgen werden Johann Wolfgang Goethe (Bernd Hamacher: Strategien narrativen Katastrophenmanagements. Goethe und die "Erfindung" des Erdbebens von Lissabon) und Heinrich von Kleist (Michael Gamper: Menschenmasse und Erdbeben. Natur- und Bevölkerungskatastrophen im 18. Jahrhundert und bei Kleist) behandelt. Diese beiden Texte stellen auch eindeutig die beiden literaturwissenschaftlich avanciertesten Beiträge des Bandes dar. In diesem Zusammenhang fällt die leider in mehrerlei Hinsicht überraschend große Heterogenität der Texte auf. Von Höhepunkten wie etwa einem Aufsatz Odo Marquards zur Geburt der Geschichtsphilosophie bis hin zu manchen Beiträgen, bei denen selbst die Zeit für ein vernünftiges Lektorat gefehlt zu haben scheint, ist auch in puncto Qualität im Sammelband alles vertreten.
Beeindruckend ist die Spannbreite des Buches dennoch. Selbst neue Quellen wurden ausfindig gemacht und ediert - etwa in Marion Ehrhardts Beitrag "Ein unbekannter deutscher Augenzeugenbericht über das Seebeben vor Lissabons Küste 1755". Am interessantesten erscheint der Band immer dort, wo tatsächlich neue Perspektiven auf Lissabon und seine Folgen entwickelt werden - so in Martin Kagels Beitrag über die allgegenwärtige Katastrophenmetaphorik im literarischen Werk Ewald Christian von Kleists.
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