Metapher der modernen Gesellschaft

Über Steffen Popps Gedichtband "Kolonie Zur Sonne"

Von Andreas HuttRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hutt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Kolonie Zur Sonne" nennt Steffen Popp seinen zweiten Gedichtband. Die darin enthaltenen Texte haben allerdings wenig von der Beschaulichkeit einer Laubenkolonie, auf die der Titel anspielt, sondern sind hochkomplexe sprachliche Gebilde, in denen sich wesentlich mehr von der Überfülle einer technisierten, interdisziplinär vernetzten Welt als von identitätsstiftenden Rückzugsorten findet.

Ebenso wie in seinem Debütband "Wie Alpen" setzt Popp in "Kolonie Zur Sonne" die Poetik in die Praxis um, deren Grundlagen er 2007 in dem Aufsatz "Poesie als Lebensform" in der Zeitschrift Bellatriste (Nr. 18) dargelegt hat. Es gehe ihm darum, "möglichst komplex, gern auch disparat und bitte originell, aber noch integrierbar, irgendwie anschließbar" zu schreiben und somit "dem Leser eine anspruchsvolle Kompositionsgrundlage" für dessen Rezeption zu bieten. Gedichte spiegelten nichts anderes wider "als das Verhalten ihres Autors mit Mitteln der Sprache im Raum - eine virtuelle Aktion, die sich im Zug des Entwurfs und seiner Bearbeitung aktualisiert, im Nachvollzug der Lektüre eine Wirklichkeit (Wahrnehmung, Evokation, Erfahrung) ausbildet."

Die Texte, die auf der Grundlage dieser Poetik entstehen, verhalten sich zum Alltag wie eine Landschaft im Nebel. Ab und zu wird ein Felsen oder ein Baum - also etwas Alltägliches - sichtbar, um zugleich wieder hinter einer weißen Wand aus neuartigen sprachlichen Bezügen zu verschwinden. So entwirft Popp Bilder wie "etwas in ihnen atmete ohne Grund / gleichverteilt in den Gedenkstrecken der Festländer" (Keine Entschuldigung, Licht), "wie durch einen langen Traum spielen / die Körper Haut" (Die Muskeln der Luft vor der See) oder "Das Intensive, gelangweilt von unseren Stilen / spuckt uns ins Licht" (Rede mit Toten). Vielen Gedichten liegt erkennbar eine alltägliche Situation zugrunde (Hotelsituation, langes Liegen / Ereignisverdacht anlässlich eines Hasen / Diese Erinnerung endet am Meer), für andere wird die Literaturwissenschaft vielleicht irgendwann die Vokabel "hyperhermetisch" einführen (Diese Tektonik, am Ende / Bukolische Postkarten / Keine Entschuldigung, Licht).

Sicherlich hat Popp Recht, wenn er Rezeption als einen Akt der Komposition durch den Leser begreift. Den größten Teil seiner Bedeutung gewinnt ein Gedicht erst durch seine Verarbeitung im Bewusstsein des Rezipienten. Allerdings stellt sich die Frage, ob es nicht auch Aufgabe des Autors ist, den Rezeptionsprozess zu steuern, indem er sich in sprachlicher Hinsicht beschränkt, eine Auswahl an Themen, Motiven und Wortfeldern trifft, die es dem Leser ermöglicht, seine Assoziationen zu bündeln. Ein zu weit gehendes literarisches Laissez-faire endet leicht in Beliebigkeit.

Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil "Sternenstadt" sind die Gedichte klar verortet, spielen unter anderem auf die Stadt Rom an, sind in der Laubenkolonie "Zur Sonne" angesiedelt und so weiter, während im zweiten "Tristan Gelände" mehr zeitliche Bezüge in den Vordergrund treten, so befassen sich hier viele Gedichte mit dem Thema Kindheit. Bei den Texten im dritten Abschnitt "Meeresstudio" wird, wie der Titel nahelegt, auf das Meer rekurriert, Teil vier "Magische Jagdpost aus Rehheim" thematisiert das Verhältnis von Ich, Du und Natur.

Stilistisch arbeitet Popp damit, dass gängige Stilmittel weiterentwickelt (Enalage, Personifikation et cetera) werden, dass er zum Beispiel sprachlich fremde Bereiche miteinander vermischt ("hitzeverzogenes Blau"), Unbelebtes belebt ("verwelktes Klavier", "die Einsamkeit deiner Gummistiefel") oder Belebtes als unbelebt beschreibt ("Inventar uneingelöster Organe", "Insekten [...] wie Strecken"). Die Gedichte zeigen so, wie Realität auf der Grundlage einer Folie wissenschaftlicher Erkenntnisse und Theorien wahrgenommen, in bereits vorhandene Bezugssysteme eingefügt und verarbeitet wird. Auffallend ist in diesem Zusammenhang auch die Verwendung von naturwissenschaftlich-technischen Begriffen oder von Komposita wie "Wertkomponenten, implantiert, Produktzone, Phantomschmerz, Richtungssysteme." Die Stilmittel, die am häufigsten eingesetzt werden, dürften die Reihung ("wir meistern das höhere Leiden, die tiefere Republik / unausgepacktes Interieur, schlafende Zellen" - Gaia, "powered by sun") und die zuweilen leicht überstrapazierte Alliteration sein ("Gehirn, sagtest du, Gehörn ich, Geweih, Gestell du, Gewölk" - Im Auge des Abends mit Fragen, des Morgens mit Lärm, Sonne), die ebenfalls dazu dienen, Bezüge deutlich zu machen, scheinbar nicht Zusammengehörendes zusammenzudenken.

Gewissermaßen als Nachwort wird auf der Rückseite des Bandes ein Auszug aus dem bereits weiter oben erwähnten Aufsatz "Poesie als Lebensform" zitiert. Darin schreibt der Autor über sein Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit: "Nur was wir in poetische Praxis umsetzen, kann gutes Gewissens als ,anthropologisch gemeistert' gelten." Es geht Popp also auch darum, sich der Wirklichkeit im Gedicht zu nähern, Welt und Verarbeitung von Welt in der Poesie zu dokumentieren (und gleichzeitig zu überprüfen, inwieweit die poetischen Verfahrensweisen dieser Annäherung beziehungsweise Verarbeitung wichtig für das Leben selbst sind).

Viele der Bilder von Popp erfüllen diese Aufgabe, sind Philosophie im Gedicht, wie etwa "in den Vorgebirgen des Seins / hörte das Denken auf, uns zu zerstören / also, zu existieren" (Fragmente einer Straße bei Regen I) oder "reich an Vergleichen, arm an gelebter Zeit/ in Koalition mit Objekten (Dingen und Kräften) hielt ich / das Gleichgewicht ,über die Sprache hinaus'" (Logbücher der Paranoischen Landschaft / II Fuge). Gelegentlich lässt Popps Versuch, Welt ,anthropologisch zu meistern', den Leser ratlos zurück, denn die Worte, aus denen er seine Bilder konstruiert, sind manchmal sprachlich zu disparat, um eine befriedigende Grundlage für Interpretationen zu sein. Die Metaphern scheinen in diesen Fällen symbolhaft für die Orientierungslosigkeit des Ichs in einer Gesellschaft zu stehen, auf deren Agenda die Überforderung des Einzelnen oben steht. Hier würde weniger Komplexität und Originalität zugunsten von mehr Orientierung oder einer klareren Komposition von Seiten des Autors Abhilfe schaffen.


Titelbild

Steffen Popp: Kolonie Zur Sonne. Gedichte.
Kookbooks Verlag, Berlin 2008.
64 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783937445359

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