Die braune Gefahr rechtzeitig erkannt

Vor siebzig Jahren nahm sich Ernst Toller das Leben

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

In seiner 1933 veröffentlichten Autobiografie "Eine Jugend in Deutschland" erzählt der jüdische Schriftsteller Ernst Toller, dass Friedrich der Große seinem Urgroßvater mütterlicherseits als einzigem Juden erlaubt habe, sich in Samotschin (Posen), einer kleinen Stadt im Netzebruch, anzusiedeln. Bei allen Kämpfen gegen die Polen hätten Juden und Deutsche eine Front gebildet und sich die Juden als Pioniere deutscher Kultur gefühlt. "In den kleinen Städten bildeten jüdische bürgerliche Häuser die geistigen Zentren, deutsche Literatur, Philosophie und Kunst wurden hier mit einem Stolz, der ans Lächerliche grenzt, 'gehütet und gepflegt.'[...] Die Juden saßen an Kaisers Geburtstag mit den Reserveoffizieren, dem Kriegerverein und der Schützengilde an einer Tafel, tranken Bier und Schnaps und ließen Kaiser Wilhelm hoch leben."

Doch was es nur allzuoft bedeutete, Jude in Deutschland zu sein, hat Toller schon früh erfahren. Als er einmal, noch im Kinderkleidchen, bei einem kleinen Mädchen stand, rief diesem das Kindermädchen zu: "Bleib da nicht stehen, das ist ein Jude." Abends im Bett fragt der kleine Ernst seine Mutter: "Warum sind wir Juden?" Aber die Mutter wehrt ab: "Schlaf, Kind, und frag nicht so töricht." Das Kind jedoch findet keine Ruhe und hegt fortan nur noch den Wunsch, kein Jude zu sein, damit die Kinder nicht hinter ihm herlaufen und 'Jude' rufen. Dieser Schmerz hatte sich in Toller so tief eingebrannt, dass die Freude jedesmal groß war, wenn er nicht als Jude erkannt wurde.

In seiner Autobiografie erinnert sich Toller auch an die Tage des Kriegsbeginns 1914 und an seinen leidenschaftlichen Wunsch, den er im übrigen mit vielen Juden seiner Zeit teilte, durch den Einsatz seines Lebens im Krieg zu beweisen, dass er Deutscher sei. Aus dem Feld bat er das Gericht in der Heimat, es möge ihn aus den Listen der jüdischen Gemeinschaft streichen. Er sei Deutscher, nichts als Deutscher. An anderer Stelle gesteht Toller indes: "Fragte mich einer, sage mir, wo sind deine deutschen Wurzeln, und wo deine jüdischen, ich bliebe stumm."

Am Schluss des Buches schreibt Toller, dass er dieses Land liebe und die Verse Johann Wolfgang von Goethes und Friedrich Hölderlins stets mit dankbarer Ergriffenheit gelesen habe. Zugleich überlegt er: "Die deutsche Sprache, ist sie nicht meine Sprache, in der ich fühle und denke, spreche und handle, Teil meines Wesens, Heimat, die mich nährte, in der ich wuchs? Aber bin ich nicht auch Jude? Gehöre ich nicht zu jenem Volk, das seit Jahrtausenden verfolgt, gejagt, gemartert, gemordet wird, dessen Propheten den Ruf nach Gerechtigkeit in die Welt schrien, den die Elenden und Bedrückten aufnahmen und weitertrugen für alle Zeiten, dessen Tapferste sich nicht beugten und eher starben als sich untreu zu werden?"

Genau hierin lag auch für Toller der verbindliche Kern seines Judentums, während jede andere Form nationaler Manifestation ihm bald austauschbar und destruktiv erschien, den Zionismus eingeschlossen, so große Wertschätzung er auch zionistischen Pionieren entgegen brachte. "Soll ich dem Wahnwitz der Verfolger verfallen und statt des deutschen Dünkels den jüdischen annehmen?" fragte er sich und: Bin ich nur wegen meiner jüdischen Tradition "ein Fremder in Deutschland?" Am Ende all seiner Überlegungen steht Tollers Bekenntnis zum Weltbürgertum: "Eine jüdische Mutter hat mich geboren, Deutschland hat mich genährt, Europa hat mich gebildet, meine Heimat ist die Erde, die Welt ist mein Vaterland."

In Samotschin, wo sich sein Urgroßvater niederlassen durfte, wurde auch Ernst Hugo Toller geboren, am 1. Dezember 1893 als Sohn des preußisch-jüdischen Kaufmanns Max Toller. Nach Abschluss des Schulbesuchs am Realgymnasium in Bromberg studierte er an der Universität Grenoble. Im ersten Weltkrieg meldete er sich als Freiwilliger bei einem bayerischen Regiment in München und diente mehr als ein Jahr an der westlichen Front, bis er schwer krank und als dienstuntauglich entlassen wurde und sein juristisches und philosophisches Studium in München und Heidelberg fortsetzen konnte. In einem Münchner Buchladen begegnete er Rainer Maria Rilke. "Ich habe seit Jahren keine Verse mehr geschrieben", sagte Rilke leise, "der Krieg hat mich stumm gemacht". Mit dem Dichter Richard Dehmel - auch er war im Krieg gewesen - wanderte Toller durch den thüringischen Wald. Er wurde sogar in das Haus von Thomas Mann eingeladen und durfte dem Verfasser der "Buddenbrooks" seine Gedichte vortragen.

Beeinflusst von Max Weber und Gustav Landauer wurde Toller Demokrat und Sozialist. Später lernte er Kurt Eisner, den Gründer der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, kennen und fühlte sich von seinen politischen Ideen inspiriert - nicht zuletzt deshalb, weil Kurt Eisner schon früh vor dem Verhängnis eines Krieges gewarnt hatte. Auch Toller kämpfte nun gegen den Krieg, den er anfangs befürwortet hatte, und lehnte jede Gewalt entschieden ab. In den Jahren 1918/1919 beteiligte er sich an den revolutionären Vorgängen und der Gründung der Räterepublik in München. Nach der Ermordung Eisners wurde Toller im März 1919 Vorsitzender der bayerischen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD).

Nach der Niederschlagung der Räterepublik wurde Toller verhaftet und zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Während der Haft verfasste er seine wichtigsten expressionistischen Dramen: "Die Wandlung", "Die Maschinenstürmer", "Masse Mensch", das Anti-Kriegsstück "Der deutsche Hinkemann". Durch sie wurde Toller zu einem der berühmtesten, auch international beachteten Dramatiker Deutschlands, dessen Bücher bald in 27 Sprachen übersetzt wurden.

Bereits ein halbes Jahr nach seiner Inhaftierung wurde Toller wegen des großen Erfolges seines Erstlingswerkes "Die Wandlung" (Toller schildert hier seine geistige Entwicklung vom jüdischen Kriegsfreiwilligen zum Pazifisten und Revolutionär) die Begnadigung angeboten, die er jedoch ablehnte, da er den anderen Gefangenen gegenüber nicht bevorzugt werden wollte. So saß er seine vollen fünf Jahre ab.

Nach seiner Entlassung zog er, da man ihn aus Bayern auswies, nach Berlin, wurde Mitarbeiter der "Weltbühne" und engagierte sich in verschiedenen Gruppen und Aktionen für einen revolutionären Pazifismus. Er hielt Vorträge und reiste viel: 1925 nach Palästina, wo er der Gründung der Hebräischen Universität in Jerusalem beiwohnte, 1926 in die Sowjetunion und in die USA und 1930 nach Spanien. Nebenbei schrieb er seine Dramen, von denen "Der entfesselte Wotan" (1923) aus heutiger Sicht besondere Beachtung verdient. Wirkt doch das Stück wie eine Vorwegnahme und Parodie von Hitlers Aufstieg, obwohl man den Eindruck hat, es sei erst nach 1945 entstanden.

Als besiegter Revolutionär hatte Toller schärfer und bitterer als die meisten seiner Zeitgenossen die Rückkehr Deutschlands zur Barbarei erlebt. Schon im zweiten Gefängnisjahr erkannte er die Gefahr, die von Adolf Hitler ausging. Er warnte und prophezeite und konstatierte: "Um den Mann Adolf Hitler scharen sich unzufriedene Kleinbürger, frühere Offiziere, antisemitische Studenten und entlassene Beamten. Sein Programm ist primitiv und einfältig." Nach seiner Freilassung erhob Toller unermüdlich seine Stimme gegen eine solche Diktatur. Seine Voraussagen über eine Nazi-Schreckensherrschaft gingen in ihrer diagnostischen Schärfe weit über die Befürchtungen der "Realpolitiker" hinaus. Er hatte die verhängnisvolle Mischung von Selbstverblendung und Faszinationskraft des Diktators klar erfasst, im Gegensatz etwa zu Heinrich Manns krasser Fehleinschätzung Hitlers als unfähigen, impotenten und an der Realität der Macht notgedrungen scheiternden Schwindler. Mit meisterhafter Klarheit notierte Toller: "Es ist an der Zeit, gefährliche Illusionen zu zerstören. Nicht nur Demokraten, auch Sozialisten und Kommunisten neigen zu der Ansicht, man solle Hitler regieren lassen, dann werde er am ehesten 'abwirtschaften'. Dabei vergessen sie, dass die Nationalsozialistische Partei gekennzeichnet ist durch ihren Willen zur Macht und zur Machtbehauptung. Sie wird es sich wohl gefallen lassen, auf demokratische Weise zur Macht zu gelangen, aber keinesfalls auf Geheiß der Demokratie sie wieder abgeben."

Angepöbelt von rechts und links, wurde Toller dennoch der Protagonist des politischen Theaters, lange vor Bertolt Brecht. Auch war er, Ernst Toller, und nicht Gerhart Hauptmann der deutsche Klassiker des Sozialismus.

Als am 27. Februar 1933 der Reichstag brannte, befand sich Toller zufällig in der Schweiz. So entging er der Verhaftung. Als nationalsozialistisch eingestellte Professoren und Studenten am 10. Mai vor Universitäten den Nazis missliebige Bücher verbrannten, waren auch Tollers Publikationen darunter. Auf einer Liste von 33 Ausgebürgerten stand am 23. August sein Name neben den Schriftstellern Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Kurt Tucholsky.

Wenige Wochen nach der Bücherverbrennung sorgte Toller beim PEN-Kongress von Ragusa (Dubrovnik) für Aufsehen, als er in seiner Rede die offizielle deutsche Delegation angriff und bloßstellte. Er geißelte darin nicht nur das Schweigen des deutschen PEN-Clubs zu allen Verfolgungen und Verboten deutscher Schriftsteller, sondern hob auch hervor, dass der Schriftführer des PEN-Clubs selbst der Autor der antisemitischen Hetzschrift "Juden sehen dich an" war. Mit seiner Rede erreichte er, dass die offizielle deutsche Delegation den Kongress unter Protest verließ.

Seine letzte Rede hielt Toller, dessen literarische Arbeit im Exil hinter politischer Aufklärung und praktischer Hilfe immer mehr zurückgetreten war, im Mai 1939 auf dem New Yorker PEN-Kongress. Danach reiste er mit Schriftstellerkollegen nach Washington zu einem Empfang im Weißen Haus. Wenige Tage darauf, am 22. Mai, ging er, am Rande seiner Kräfte, verlassen von seiner jüngeren Frau, der Schauspielerin Christiane Grautoff, und völlig entmutigt, zur Mittagsstunde in den Freitod im New Yorker Hotel "Mayflower". Als man ihn tot entdeckte, fand man Fotos von abgemagerten spanischen Kindern, die Toller auf seinem Schreibtisch ausgebreitet hatte. "Ich fasse nicht das Leid, das der Mensch dem Menschen zufügt", hatte er als Dreißigjähriger geschrieben. Die Nazis jedoch bewerteten seinen Freitod kaltblütig als moderne Wiederholung des Selbstmords des biblischen Judas Iskariot, der für die braunen Machthaber alle jüdischen "Rassenmerkmale" verkörperte.