Mütter, Macht, Missbrauch
Jonathan Coes Roman „Der Regen, bevor er fällt“ handelt von Lebensbildern und von einem Glück, das es nicht gibt
Von Almut Oetjen
Besprochene Bücher / Literaturhinweise
Jonathan Coe, der bekannt geworden ist mit sozialpolitischen Satiren wie „Erste Riten“, „Klassentreffen“ und „Allein mit Shirley“, erzählt in seinem achten Roman „Der Regen, bevor er fällt“ zwei Geschichten mit melancholischem Grundton. In der Rahmenerzählung erfährt Gill, Ehefrau von Stephen und Mutter der erwachsenen Töchter Catharine und Elizabeth, vom Tod ihrer Tante Rosamond, deren Nachlass sie verwalten soll und die ein seltsames Erbe hinterlassen hat: Tonbänder für Gills Cousine Imogen. Gill hat Imogen nur einmal, vor rund zwanzig Jahren, auf Rosamonds 50. Geburtstagsfeier gesehen und erinnert sich nur an sie, weil das damals sieben oder acht Jahre alte Mädchen blind ist. Die Suche nach Imogen verläuft erfolglos.
Gill und ihre Töchter hören sich die Bänder an, die eine ihnen bislang unbekannte Familientragödie über drei Generationen offenbaren. Rosamonds Erzählung nimmt den Großteil des Romans ein. Sie geht von zwanzig Fotographien aus, die Rosamond der blinden Imogen beschreibt, um ihr eine Vorstellung von ihrer Geschichte zu vermitteln. In die Bildbeschreibungen eingewebt sind Erlebnisse aus Rosamonds und Einblicke in Imogens Leben, von sehr kurz gefassten Anekdoten bis hin zu mehrere Seiten umfassenden kleinen Erzählungen, wie die über den Kurzauftritt von Rosamond und ihrer drei Jahre älteren Cousine Beatrix in einem Film. Die Fotos werden nicht chronologisch abgearbeitet. Vielmehr reichen die Erinnerungen, die an ein Bild gebunden sind, teils Jahre hinter den Aufnahmezeitpunkt zurück.
Der Autor lässt Rosamond ihr Vorgehen häufig reflektieren, die Erinnerungen in Frage stellen. Für Rosamond haben Fotos nur diesen Wert: das fehlbare Gedächtnis zu unterstützen und einen Beweis dafür zu liefern, dass die Dinge, an die sie sich erinnert, wirklich passiert sind.
Coe erzählt vom Leben dreier Generationen von Frauen, Ivy, Beatrix und Thea, die in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter versagen. Die kontinuierliche Weitergabe von Beschädigungen an die jeweils folgende Generation erzeugt eine perverse Form von Tradition in Mutter-Tochter-Beziehungen. Coe beginnt mit subtilen Andeutungen, die sich langsam verdichten und schließlich ihren Kulminationspunkt im offen beschriebenen Grauen finden. Wir erfahren auch, warum Gill Imogen nicht ausfindig machen konnte.
Am Ende des Buches vermitteln ein Besuch Theas am Grab Rosamonds und ein Brief Theas an Gill weitere Einsichten und klären offene Fragen. Coe beschreibt eine Familie, die über Generationen nicht richtig kommuniziert.
Der Roman trägt einen schönen Titel, der einem Lied des britischen Jazz-Musikers Mike Gibbs entnommen ist. Formal ist „Der Regen, bevor er fällt“ wie ein Musikstück komponiert. Der Präludie folgen Rosamonds Improvisationen über die zwanzig Bilder. Die Tonaufnahmen entstehen während der Ausführung: Rosamond sieht die Bilder an und bespricht dabei das Band. Aber es wird auch auf alltägliche Weise improvisiert. Rosamond will Imogen Bilder näher bringen, und meistert diese Schwierigkeit spontan während der Bildbetrachtung. Rosamonds Erzählungen sind komprimiert und dennoch emotional berührend. Jede Improvisation beginnt mit der Nennung der Bildnummer und dem Versuch der zeitlichen und örtlichen Bildeinordnung. Die formale Gestaltung findet ihren Widerhall in den Mutter-Tochter-Beziehungen der drei Generationen.
Ein lesenswertes Buch über die Macht, die Mütter über ihre Kinder haben, den Missbrauch dieser Macht, die kontinuierliche Weitergabe von Lieblosigkeit an ungewollte Töchter. Am Rande auch ein Buch über die Gewalttätigkeit von Männern, als Ehemänner und Väter.
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