Lückenhafte Lektüren
Erdmute Sylvester-Habenicht sichtet schulische Literaturgeschichtsschreibungen aus feministisch-genderorientierter Perspektive
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWilliam Shakespeares nicht weniger begabte, allerdings unbekannte Schwester hat es in der Literaturgeschichte denn doch zu einiger Berühmtheit gebracht. Und zwar als Figur ihrer Erfinderin Virginia Woolf. Auch Erdmute Sylvester-Habenicht kennt und nutzt sie für den Einstieg in ihre „RE-Inspektion aktueller Literaturgeschichtsschreibung aus feministisch-genderorientierter Sicht“. Dabei hätte sie sich gar nicht ins ferne Albion begeben müssen, sondern auch in der deutschsprachigen Literatur ein Beispiel für eine wegen ihres Geschlechts vergessene Schwester eines berühmten Literaten finden können. Hedwig Dohm erdachte schon vor Woolf eine Schwester Friedrich Schillers, der ein ähnliches Schicksal beschieden war wie der unter tragischen Umständen früh verstorbenen Miss Shakespeare. Doch hat Friederike Schiller nicht einmal als Erfindung Dohms einen größeren Bekanntheitsgrad erreicht. Auch Sylvester-Habenicht scheint sie fremd zu sein. Dafür aber kennt sie eine nicht bloß literarische, sondern tatsächliche Schwester eines genialischen Autors, der zwar die literarische Begabung seiner Schwester erkannte, ihr die Ambitionen, publiziert zu werden oder künftig auch nur etwas anderes als Briefe zu schreiben, mit arrogant-patriarchalischem Gestus schleunigst austrieb und ihr nahe legte, sich lieber mit Haushalt und „Kochkunst“ zu befassen. Auch bei ihnen handelt es sich um ein deutsches Geschwisterpaar: Cornelia und Johann Wolfgang Goethe.
Der Untersuchungskorpus des vorliegenden, unter dem Titel „Kanon und Geschlecht“ erschienenen Bandes besteht aus einigen Literaturgeschichten, die zum Ende des vergangenen Jahrzehnts für den schulischen Gebrauch in den Sekundarstufen I und II geschrieben oder neu aufgelegt wurden. Sylvester-Habenicht „re-inspizier[t]“ sie „vor dem Hintergrund feministisch-genderorientierter Kritik an der traditionellen Literaturhistoriegrafie im Hinblick auf die Akzeptanz weiblicher Autorschaft“.
Allerdings hält das Buch aufgrund des doch schon ein Jahrzehnt zurückliegenden Untersuchungszeitraums und des auf Schulbücher begrenzten Untersuchungskorpus in doppelter Hinsicht nicht, was sein Untertitel verspricht – nämlich eine „Re-Inspektion aktueller Literaturgeschichtsschreibung“. Somit ist es für LiteraturwissenschaftlerInnen nur von eingeschränktem Interesse. Doch ist andererseits nicht von der Hand zu weisen, dass der Schule eine „herausragende Stellung“ zukommt, da sie der „erste Ort institutioneller literarischer Sozialisation“ ist, der „gezielt in den literarischen Kanon einführt“. Eine Überlegung, die der Einschränkung des Untersuchungskorpus einige Berechtigung verleiht.
Weniger überzeugend ist Sylvester-Habenichts Kritik am „Objektivitätsgebot der androzentrischen Fachwissenschaft“. Und zwar einfach deshalb, weil schon lange kein forschender Mensch mehr Objektivität anstrebt. Nicht einmal in den Naturwissenschaften. Und schon gar nicht in der Literaturgeschichtsschreibung. Darum mag es zwar weithin zutreffend sein, dass „LiteraturhistoriegrafInnen traditioneller Literaturgeschichten“ das Geschlecht ausklammern. Dies aber nicht etwa, weil sie „dem Gebot der Objektivität folgen“. Auch wurden einige der Fragen, die Sylvester-Habenicht noch als offen gelten, längst beantwortet. So hat die genderorientierten Literaturwissenschaft in den letzten anderthalb Jahrzehnten auch hierzulande mehrfach bewiesen, dass sie „feministische Positionen stärken“ kann.
Dessen ungeachtet zeigt Sylvester-Habenicht, dass Schriftstellerinnen und ihre Werke in den untersuchten schulischen Literaturgeschichten „trivialisiert“, „nachhaltig marginalisiert“ oder gar völlig „verschwiegen“ werden. Dies geschieht der Autorin zufolge keineswegs akzidentiell, sondern ist zwei Triaden anzulasten. Zum einen derjenigen der anerkannten Gattungen Lyrik, Prosa und Drama, zum anderen den drei „männlich konnotierten Ordnungskategorien ‚Epoche – Autor – Werk‘“. Aufgrund der ersten Triade bleiben „literarische Gestaltungsweisen“, die von Frauen „auf Grund ihrer zeitspezifischen Geschlechtszuweisungen favorisiert“ wurden (also etwa Tagebücher, Autobiografien, Memoiren oder Briefromane), „zwangsläufig“ unberücksichtigt, während etwa die der zweiten Triade angehörende „Kategorie des Autors“ als „Instanz“ auf den „männlich autonomen Autor“ verweist. Dass Schriftstellerinnen und ihre Werk nicht kanonisiert werden, liegt der Autorin zufolge somit an der „männliche[n] Poetik“, die das „männliche (Kunst-)Werk die anerkannte poetologische Norm“ konstituiert.
Sylvester-Habenicht hofft mit ihrer Arbeit dazu beizutragen, dass „künftige geschlechtergerechte Literaturgeschichtsschreibung […] weder androzentrische noch feminozentrische Ausschlussmechanismen […] reproduzier[t]“. Eine solche „genderorientierte“ Literaturgeschichte würde nicht „die vermeintlich naturgegebene Differenz der Geschlechter im literarischen Leben“ betonen, sondern „die differenzierten Verflechtungen der literarisch tätigen Geschlechter unter der Perspektive ihrer je zeitspezifischen Konstruiertheit“ artikulieren und es darüber hinaus ermöglichen, „die verschiedenen Formen von Geschlechtlichkeit, die sich unter dem Begriff transgender subsumieren lassen, zu berücksichtigen“.
Ein in diesem Sinne genderorientierte und geschlechtergerechte Literaturgeschichte ist zweifellos ein Ziel, das begrüßen sollte. Denn selbstverständlich wäre es wünschenswert, wenn auch für den deutschsprachigen Raum etwa ein Werk wie Ina Schaberts von der Autorin mehrfach positiv hervorgehobene „Englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts […] aus der Sicht der Geschlechterforschung“ vorläge. Darüber sollte aber nicht aus dem Blick verloren werden, dass es hierzulande bereits einige sehr empfehlenswerte literarhistorische Darstellungen gibt, die auch an Schulen genutzt werden und die der Bedeutung von Schriftstellerinnen weithin Gerechtigkeit widerfahren lassen. So etwa die bei Sylvester-Habenicht ungenannt bleibende von Wolfgang Beutin und anderen verfasste „Deutsche Literaturgeschichte“, deren siebte Auflage unlängst im Metzler Verlag erschienen ist.
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