Mahner und Kämpfer

Vor 75 Jahren wurde Erich Mühsam von den Nazis ermordet

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Aus der rassistischen Sicht konservativer Deutscher der Weimarer Republik war Erich Mühsam zu allererst ein Jude und ein Pazifist. Sozialdemokraten galt er als Revolutionär. Kommunisten lehnten ihn als Anarchisten ab, und die Nationalsozialisten sahen in ihm alles in einem: den Frauenschänder, Homosexuellen, Intellektuellen, Kommunisten, Geiselmörder, Pazifisten, Anarchisten und Juden.

Mühsams Leben und Werk waren bestimmt von seinem Kampf für Gerechtigkeit. „Und ob sie mich erschlügen, sich fügen heißt lügen“, lautete einer von Mühsams rebellischen Zweizeilern. Mehrfach kam der respektlose Bänkelsänger und Bohemien ins Gefängnis, einmal als Mitglied der anarcho-syndikalistischen Gruppe „TAT“ in München, dann als wortreicher Aktivist der Bayerischen Räterepublik.

Viele Jahre lang gehörte Erich Mühsam nicht nur zu den „verbrannten“, sondern auch zu den verkannten Literaten in Deutschland – in West und Ost. Selbst seine Heimatstadt Lübeck wollte lange Zeit nichts von ihm wissen. Dabei hatte sie allen Grund, Mühsams Andenken in Ehren zu halten.

Als Elfjähriger dichtete er Tierfabeln. Als Fünfzehnjähriger wob er dem Komiker eines Lübecker Zirkus-Varietés regelmäßig die letzten lokalen und politischen Aktualitäten in seine Couplets. Er besuchte dieselbe Schule wie Thomas Mann und der Politiker Gustav Radbruch.

„Über der ewig verrutschten Krawatte“, schreibt Jürgen Serke in seinem Buch „Die verbrannten Dichter“, „lugte ein Kopf mit störrischem, rotem Vollbart, verwildertem Haarschopf und einem schief sitzenden Kneifer auf der Nase hervor. Er suggerierte den Bürgerschreck und war doch keiner.“ Alfred Kantorowicz, ein Freund des Dichters, erinnert sich: „Wahrhaftig, wer ihn nicht näher kannte, hätte befürchten können, dass er sogleich eine Bombe aus der Tasche ziehen und unter die Menge werfen würde. Wer ihn aber kannte, wusste, dass er der gütigste, hilfsbereiteste und dabei für seine eigene Person zugleich selbstloseste Mann war, den man sich vorstellen konnte.“

Geboren wurde Erich Mühsam am 6. April 1878 in Berlin. Aufgewachsen ist er allerdings in Lübeck, wo sein Vater eine Apotheke in der Nähe des Holstentors betrieb und als jüdischer Bürger hohes Ansehen in der Bürgerschaft genoss. Seinen Schulbesuch am ehrwürdigen Katharineum beendete er vorzeitig, genauso wie Thomas Mann. Schuld daran war eine Glosse, die Mühsam über den Direktor des Katharineums im sozialdemokratischen „Lübecker Volksboten“ veröffentlicht hatte. Den Schulabschluss mit Untersekunda und Reifezeugnis erlangte er schließlich im mecklenburgischen Parchim. Bald darauf begann er, in Lübeck, auf Verlangen seines Vaters, eine Apothekerlehre.

Mit seiner rebellischen Persönlichkeit und mit aufrührerischen Artikeln in den Lübecker Lokalzeitungen stieß er schon früh auf Widerstand. Dabei ist ihm die Rettung eines der ältesten Bürgerhäuser der Stadt, der „Löwenapotheke“, zu danken. 1898 hatte der gerade Neunzehnjährige in einem flammenden Aufruf in fünf Tageszeitungen die Öffentlichkeit von ihrem bevorstehenden Abriss unterrichtet. Ein schnell einberufenes Komitee konnte den kulturhistorischen Kahlschlag verhindern. Der erboste Vater schickte darauf hin den Sohn nach Berlin, wo er seine Lehre fortsetzen sollte. Der Sohn widersetzte sich dem Wunsch des Vaters und wurde stattdessen freier Schriftsteller. Er fand rasch Anschluss an die dortigen Bohèmezirkel und entwickelte sich alsbald zu einem der markantesten und literarisch anregendsten Vertreter des deutschen Anarchismus.

Mühsams Anschauungen verschmolzen Postulate anarchistischer Theoretiker wie die von Pierre-Joseph Proudhon, Michail Bakunin, Pjotr Kropotkin und Gustav Landauer mit Elementen des bürgerlichen Individualismus eines Max Stirner und Friedrich Nietzsche zu einem theoretisch kaum reflektierten „Gefühlsanarchismus“, der vor allem vom Autoritätshass und durch tief empfundene Verbundenheit mit den sozial Benachteiligten getragen wurde.

Mühsams literarischer und politischer Mentor war der Publizist und Politiker Landauer. Mit ihm engagierte sich Mühsam für den „Sozialistischen Bund“. Er machte ferner die Bekanntschaft mit dem Vaganten Peter Hille, dem er 1903 in „Bühne und Brettl“ eine liebevolle Hommage widmete, mit dem Satiriker Paul Scheerbart, der Lyrikerin Else Lasker-Schüler und dem norwegischen Maler Edvard Munch. Ferner war er befreundet mit Heinrich Mann, Frank Wedekind, Lion Feuchtwanger und kannte sowohl Martin Buber als auch Ernst Toller, Oskar Maria Graf, Ret Marut alias B.Traven, Alfred Wolfenstein, Ernst Niekisch und andere Schriftsteller.

Um 1902 wurde Mühsam Redakteur der Wochenschrift „Der arme Teufel“. Als politischer Lyriker war er bald in den literarischen Zirkeln Berlins bekannt. Auch als Dramatiker, Kritiker, Redner, Zeichner und Kabarettist machte er von sich reden. Auf den Brettern der „Elf Scharfrichter“ revoltierte er in Versen, Prosa und Szenen gegen die Autoritäten der Moral, für die Befreiung der Frau und die freie Liebe. Sein Spottlied „Der Revoluzzer“ wurde durch Ernst Busch populär:

War einmal ein Revoluzzer,
im Zivilstand Lampenputzer,
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.
Und er schrieb: ‚Ich revolüzze!‘
Und die Revoluzzermütze
schob er aufs linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.

Später wurde Mühsam in München sesshaft und war hier ebenfalls bald stadtbekannt, vor allem in der Schwabinger Szene. Er gründete die „Gruppe TAT“, um mit ihr das Subproletariat für den Anarchismus zu gewinnen, und gab unter dem Titel „Kain“ eine „Zeitschrift für Menschlichkeit“ heraus, mit der er zur Verbrüderung der künstlerischen Intelligenz mit dem Subproletariat aufrief.

Mit dem Ersten Weltkrieg kam Mühsams publizistische Tätigkeit zum Erliegen und wurde durch Antikriegs-Agitation ersetzt. Mündlich und auf Flugblättern wandte er sich gegen den Krieg und trug damit zu Kriegsgegnerschaft und Proteststimmung unter Arbeitern und Soldaten bei. In den Jahren 1918 und 1919 beteiligte er sich an der Revolution und der Räterepublik in München und beeinflusste mit Reden, Aufrufen und Programmen als populäre Leitfigur den Verlauf der Revolutionsereignisse bis zur Bayerischen Räterepublik. Bei einem Putschversuch der Republikanischen Schutztruppe wurde sein Freund und politischer Kampfgefährte Gustav Landauer von Freikorps-Angehörigen ermordet. Mühsam selbst wurde am 13. April 1919 verhaftet und zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt.

Im Gefängnis verfasste er das Arbeiterdrama „Judas“ und das Romanfragment „Ein Mann des Volkes“. Sofort nach seiner Begnadigung 1924 – Albert Einstein, Else Lasker-Schüler und Heinrich Mann hatten sich für ihn eingesetzt – wurde er wieder aktiv. Mit Aufrufen und Reden unterstützte er die anarchistischen Gruppen der Weimarer Republik und gab die Zeitschrift „Fanal“ heraus. In ihr übte Mühsam Kritik an der Politik und Kultur der Weimarer Republik, propagierte ein revolutionäres Bündnis „links von den Parteien“ und warnte vor dem Faschismus. Sein Ideal war eine freie Gesellschaft freier Individuen. Im Staat sah er lediglich ein „Instrument der Überantwortung von Macht an Menschen zur Beherrschung von Menschen“. Daran würde selbst der Sozialismus marxistischer Prägung nichts ändern, glaubte er und formulierte, mit Blick auf Bismarck als unmittelbar entsprechende historische Analogiefigur zu Karl Marx, wortspielerisch den Terminus „Bismarckismus“. Doch fühlte er eine wachsende Verbitterung über die Spaltung und politische Ohnmacht der Linksparteien gegenüber dem Erstarken des Nationalsozialismus. Die Flucht aus Nazideutschland gelang ihm dann nicht mehr. Die Fahrkarte nach Prag hatte er wohl in der Tasche, aber er lehnte es ab, in der Nacht des Reichstagsbrandes zu fliehen. Er wollte seine Lebensgefährtin Kreszentia, genannt Zensl, mit er seit 1915 verheiratet war und die ihn zu Hause erwartete, nicht beunruhigen. Wenige Stunden später wurde er – es war der 28. Februar 1933 – verhaftet. Vierzehn Monate lang war Erich Mühsam Folterungen und Misshandlungen ausgesetzt. Seine Unbeugsamkeit wurde zum Symbol des antifaschistischen Widerstandes, bis dann eines Tages Joseph Goebbels mit folgenden Worten: „Dieses rote Judenaas muss krepieren“ das Todesurteil aussprach. In der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934 wurde Mühsam, isoliert von seinen Mithäftlingen, von SS-Bewachern erschlagen und auf dem Abtritt aufgehängt, um seinen Freitod vorzutäuschen. Auf dem Waldfriedhof Berlin-Dahlem fand er seine letzte Ruhestätte.

Mühsams politische Überzeugung und seine jüdische Abstammung hatten ihn zum Opfer des Nationalsozialismus werden lassen. Selbst hatte sich Erich Mühsam früh von der Religion losgesagt und war 1926 offiziell aus dem Judentum ausgetreten, während sein Vater noch bestrebt gewesen war, sich als assimilierter Jude Geltung zu verschaffen, und seine Bemühungen mit einem Sitz in der Lübecker Bürgerschaft belohnt sah. In Erich Mühsams Werk, das am 10. Mai 1933 deutsche Studenten „den Flammen“ übergaben, findet sich indes kein Hinweis auf das Judentum, weder auf das eigene noch auf das anderer Juden, denen Mühsam begegnet war oder die, wie Landauer, zu seinen Vorbildern und väterlichen Förderern zählten.