1943: Roman des Ungeheuerlichen

Volker Harry Altwassers historischer Roman über einen Kriminalermittler im Konzentrationslager Buchenwald

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Volker Harry Altwasser ist das Wagnis eingegangen, einen historischen Roman über den Nationalsozialismus zu schreiben. Der Protagonist seines Romans ist der Ermittlungsrichter Kurt Schmelz, Mitglied der SS und Ermittler der Kriminalpolizei und damit zuständig für Verbrechen innerhalb und außerhalb der SS. Im Zentrum seiner Ermittlungen steht Karl Koch, der ehemalige Leiter des Konzentrationslagers Buchenwald, das oberhalb der Klassikerstadt Weimar auf dem Ettersberg liegt. Die Ermittlungen beginnt Schmelz zusammen mit zwei Kollegen, Dr. Tarnat und Liebig, im Juni 1943. Er ist vierunddreißig Jahre alt. Die Geschichte wird von dem zweiundsiebzigjährigen Ich-Erzähler Kurt Schmelz in Rückblenden erzählt. Vierzig Jahre nach den im Roman beschriebenen Ereignissen haben seine persönlichen Verdrängungsstrategien versagt und es stellen sich Schuldgefühle ein.

Altwasser hat als Vorlage der Erzählung Teile der Biografie des ehemaligen SS-Obersturmbannführers und SS-Richters Georg Konrad Morgen (1909-1982) genutzt, der in der NS-Diktatur die Korruptionsvorwürfe gegen Karl Koch, SS-Lagerkommandant des Konzentrationslagers Buchwald, untersucht hat. Dabei gelingt Altwasser ein sehr authentisches Zeitbild. Sich streng an den geografischen und historischen Fakten orientierend, entsteht ein erschreckend reales Bild – sofern man dies aus der heutigen Perspektive überhaupt beurteilen kann. Misshandlungen an Häftlingen, medizinische Experimente, Hunger, Demütigung, Folter und das alltägliche Morden im Lager, Exekutionen und ein Rund um die Uhr arbeitendes Lagerkrematorium bilden den grauenvollen Hintergrund für die Ermittlungen von Schmelz. Dieser verfolgt systematisch sein Ziel, den ehemaligen Lagerkommandanten Karl Koch der Unterschlagung und des Mordes zu überführen. Dabei wird die Absurdität des NS-Systems besonders durch die persönlichen „Moralstrategien“ der Hauptfigur deutlich, die immer zwischen dem vom NS-System an der Front und in den Konzentrationslagern legitimierten Töten von Menschen und dem gesetzlich unerlaubten „persönlich motivierten“ Mord unterscheiden muss. Dies ist besonders grotesk, da Karl Koch täglich durch das vom NS-System legitimierte „offizielle Morden“ zum Massenmörder wird. Im Roman wie in der Wirklichkeit wird Karl Koch angeklagt, zum Tode verurteilt und noch kurz vor Kriegsende hingerichtet. Schmelz – wie auch Morgen – sagen nach 1945 in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen aus.

Der Roman zeigt eine unmenschliche Justiz, die nicht unabhängig von der Politik agieren kann und jede Art von Gerechtigkeit oder Gerichtsbarkeit ad absurdum führt. Hinzu kommt die Schilderung des Versagens und Zusammenbrechens persönlicher moralischer Wertesysteme und die Anpassungsfähigkeit und Beliebigkeit von moralischen Systemen, die in der Gegenwart des „Dritten Reiches“ und seiner Protagonisten völlig versagen und sich jeglicher Menschlichkeit und Empathie verschließen. Einen besonderen Beitrag zur Verdeutlichung des Systems auch nach 1945 wird von Altwasser durch die Hauptfigur Schmelz geleistet. Als Teil des Systems, als SS-Mitglied und vielfacher Mörder, entkommt Schmelz nicht nur einer Verurteilung, sondern tritt als Zeuge im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess auf und kann seine eigene Geschichte noch läutern. Als „entnazifiziert“ eingestuft arbeitet Schmelz bis zu seinem Tod im Jahr 1982 als Anwalt in Frankfurt am Main. Dass ihn erst kurz vor seinem Tod noch eine späte Schuld ereilt, ist natürlich reine Fiktion. Dass dies einem Wunsch des Lesers nach Gerechtigkeit entspringt, kann man nach der Lektüre des Romans besser verstehen als zuvor.

Es ist ein mutiger, gut lesbarer, aber durch und durch verstörender historischer Roman, der auf detaillierten Recherchen basiert. Kaum eine literarische Darstellung führt den Leser so dicht an das fassbare Grauen des Nationalsozialismus heran. Ein Roman, der zu vielen Diskussionen Anlass geben wird und der polarisiert. Was kann man mehr von einem Buch erwarten?

Titelbild

Volker H. Altwasser: Letzte Haut. Roman.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2009.
475 Seiten, 21,80 EUR.
ISBN-13: 9783882217445

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