Für ein glaubwürdigeres Christentum

Herbert Koch über die Auswirkungen eines als Opferreligion verstandenen Glaubens

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viele sehen im heutigen Christentum eine Religion des Friedens und im Islam eine zur Gewalt anstachelnde Religion und verkennen dabei völlig, dass es in der Vergangenheit bis in unsere Gegenwart hinein immer wieder christlich motivierte und gerechtfertigte Gewalt gegeben hat. Man denke nur an die spanische Inquisition, an die Glaubenskriege im 16. und 17. Jahrhundert, an die blutigen Auswirkungen der christlichen Weltmission, an den nordirischen Terror und die tiefe Verstrickung der serbisch-orthodoxen Kirche in schwere Kriegsverbrechen beim Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren.

Der Theologe und einstige Superintendent des Kirchenkreises Wolfsburg, Herbert Koch, Jahrgang 1942, untersucht in seinem Buch „Der geopferte Jesus“ anhand verschiedener Beispielskomplexe den Zusammenhang zwischen christlicher Gewalt und der zentralen kirchlichen Lehrdeutung der Kreuzigung Jesu als Sühneopfer für die Sünden der Menschheit. Im Grunde jedoch, meint Koch, habe Gott durch die Hinrichtung seines Sohnes, der selbst sündenlos war und stellvertretend für die gesamte Menschheit leiden und büßen musste, nur seinen Zorn über die Sündenschuld der Menschen befriedigen wollen.

Was aber ist das für eine Liebe? Was ist das nur für ein Vater, der so mit seinem geliebten Sohn verfährt? fragt der Autor und weist darauf hin, dass tiefgreifendes Unbehagen am Gottesbild dieser Heilslehre auch Theologen und selbst Bischöfe sowie namhafte Schriftsteller oft erfasst hat. In André Gides Roman „Der Falschmünzer“ fragt beispielsweise eine Romanfigur, inwiefern der christliche Gott ein ‚lieber‘ Gott sei. Immerhin habe er seinen eigenen Sohn geopfert, um die Menschheit zu erlösen. Grausamkeit sei, so Gide, „das vornehmste Attribut des lieben Gottes!“ Auch Bernhard Schlink, Autor des Romans „Der Vorleser“, äußert sich verständnislos. Er teile wohl die Sehnsucht nach Vergebung, könne aber nicht verstehen, warum Gott, wenn er den Menschen vergeben wolle, seinen Sohn ans Kreuz schlagen lässt: „Warum vergibt er uns nicht einfach?“ Der evangelische Theologe und Soziologe Klaus Peter Jörns meint sogar, dass Gottes Liebe ihm nur ohne ein solches Sühneopfer glaubwürdig sei. Auch der theologische Publizist Heinz Zahrnt hielt die bei vielen Christen immer noch beliebte Rede vom Blut Christi „für religiös und theologisch gleichermaßen unerträglich.“

Die Erbsündenlehre habe, so Koch, nicht nur immer wieder Gewalttaten erzeugt, sondern auch ein negatives Gottes- und Menschenbild, und damit unübersehbaren Schaden angerichtet. Neben den Paulusbriefen sei dies vor allem dem dominanten Einfluss von Augustinus und Anselm von Canterbury auf die Lehrentwicklung der Kirche zuzuschreiben, die zu jenem kirchlichen Dogma geführt habe, das alle Menschen gleichermaßen zu Sündern stempelt. Dieses Diktum musste unweigerlich den Zorn Gottes hervorrufen und aus einem gütigen Schöpfergott einen vom Zorn beherrschten, unnachsichtigen Strafrichter machen. Durch den grausamen Tod seines Sohnes wurde Gott Genugtuung zuteil, so dass er sich den Menschen wieder barmherzig zuwenden konnte. Da diese indes immer wieder von neuem sündigen, drohe ihnen eines Tages möglicherweise das Jüngste Gericht. Der niederländische Theologe Harry M. Kuitert behauptet gar, dass gerade die klassische Verkündigung von Hölle und Verdammnis für die Kirchenfürsten nur ein Mittel gewesen sei, um die Menschen im Griff zu behalten und den Fortbestand der Kirche zu sichern.

Koch beleuchtet eingehend die fatalen Folgen der christlichen Erlösungsvorstellung und weist darauf hin, dass, nachdem die Kirche Staatskirche geworden war, Lehrabweichungen mit staatlicher Gewalt begegnet wurde. Damit sei eine Tradition begründet worden, die im Mittelalter in einen hemmungslosen physischen Vernichtungswillen gegen alle eingemündet sei, die man zu Feinden Gottes erklären konnte, wie etwa Heiden, Ketzer, Hexen und Juden. Auch die Waldenser, die Krieg und Todesstrafe ablehnten und die Lehren von Ablass und Fegefeuer als unbiblisch verurteilten, fielen gegen Ende des 13. Jahrhunderts weitgehend der Inquisition zum Opfer.

Die im Zentrum der christlichen Religion stehende Thematik von Sünde und Schuld habe sich, laut Koch, ebenfalls auf das Verständnis von Erziehung in der abendländischen Kultur ausgewirkt. Sie war streng autoritär, basierte auf ausschließlichem Gehorsam und stand gleichsam „unter Gottes Zorn“. Sie sei nichts anderes als eine „schwarze Pädagogik“ gewesen. Erziehung, so glaubte man, müsse aus Liebe zum Kind, diesem auch den Schmerz der Strafe antun. Parallel zum Handeln Gottes an seinem eingeborenen Sohn sei auch im strafenden Erzieher letztlich Liebe am Werk. Lange Zeit verstanden daher viele Eltern Grausamkeit als Ausdruck elterlicher Liebe. Noch 1979 ergab eine repräsentative Umfrage eine Bejahung der Prügelstrafe bei zwei Drittel der damaligen bundesdeutschen Bevölkerung.

Koch befasst sich ferner mit der politisch-strukturellen Wirkungsgeschichte der christlichen Tradition, die, wie er darlegt, ebenfalls von einem auf die „Sünde“ fixierten Menschen- und Gottesbild geprägt sei. Da die Demokratie die menschlichen Möglichkeiten prinzipiell positiv einschätzt und vom mündigen Menschen ausgeht, hatte man in der Kirche mit dieser Staatsform zunächst nicht viel im Sinn. Dafür galt lange Zeit, sogar noch in der Weimarer Republik, die Monarchie als eine dem Willen Gottes gemäße Staatsform. Dass die christliche Lehre von der Sündhaftigkeit des Menschen und dem Sühneopfer Christi eine antidemokratische Wirkungsgeschichte entfalten kann, hat sich in jüngster Zeit auch in der Mobilisierung evangelikaler Christen in den USA bestätigt, die mit dazu beigetragen hat, dass dort vor einigen Jahren George W. Bush ins Weiße Haus einziehen konnte und damit ein Präsident, der seine Regierungspolitik religiös begründete und der Überzeugung huldigte, von Gott den Auftrag erhalten zu haben, die Welt vor dem Bösen zu retten

Die beiden Weltkriege, insbesondere der Erste, wurden, konstatiert Koch in seiner mitunter deftigen, aber unmissverständlichen Ausdrucksweise, geradezu „zu einem gefundenen Fressen für die Kirchen“, für das man Gott danken musste. Führte der Krieg doch, nach Meinung vieler Kirchenvertreter, zurück auf eine sittliche Höhe der Menschheit und sei daher für die bis dahin lange frustrierte Kirche, eine wirksame Hilfe zum Sieg über viel Böses in der Welt geworden. Gerade evangelische Prediger stimmten wie selbstverständlich in die wahnhaft chauvinistische Sinngebung des Krieges ein. In beiden Weltkriegen kommt der Kreuzestod Christi sowohl im Felde wie an der „Heimatfront“ zum Einsatz als Trost des trotz Sünde und Schuld erworbenen ewigen Lebens und als Vorbild der Bejahung des Leidens für andere bis zur Lebenshingabe. Zudem wurde von beiden Konfessionen die Bibel so lange gedreht und gewendet, bis „der Spruch herausfiel: „Du sollst töten!“

Im Zweiten Weltkrieg hat vor allem die evangelische Kirche bewusst, intensiv und vertrauensvoll für Hitler gebetet. Diese Hinwendung begreift Koch als Ausdruck für die Befreiung von der Weimarer Demokratie. Wie im Ersten Weltkrieg so galt auch im Zweiten der sich opfernde Christus als höchstes moralisches Vorbild für die gehorsame Bereitschaft zum soldatischen Opfertod. Wer diesen Gehorsam leistet, dem werde ewiges Leben zuteil. Sowohl für die evangelische als auch für die katholische Kirche ist inzwischen hinsichtlich ihres Verhaltens unter Adolf Hitler viel Beschämendes ans Tageslicht gekommen.

Dabei ist der Glaube an eine „Erlösung“ durch eine vorgeblich gottgewollte Gewalttat seit der Aufklärung, die dem Menschen ein Grundmaß an Würde und ethischer Integrität zubilligt, längst hinfällig, ja nahezu unerträglich geworden. Zwar haben auch die Vertreter der Aufklärung den Mensch als fehlbar angesehen, aber nicht in seinem ganzen Wesen an die Macht der Sünde hingegeben. Leider haben sich die Kirchen diese Sicht nie zu eigen gemacht, vielmehr ihre vormoderne Tradition bis heute gepflegt, und sich zum Dialog mit den geistigen und gesellschaftlichen Kräften der Moderne als weitgehend unfähig erwiesen, obwohl auch die Theologie längst zu einer historischen Wissenschaft geworden ist, die sich der historisch-kritischen Bibelexegese bedient. Gleichwohl geht die Kirche nicht selten massiv gegen die „Modernisten“ vor, wie etwa gegen Hans Küng, Eugen Drewermann und viele andere, die sich das Denken und den Mund nicht verbieten lassen wollen. Denn immer noch herrscht in unseren Kirchen, klagt Koch, insbesondere im Vatikan unter Benedikt XVI., viel Selbstgerechtigkeit gegenüber Andersdenkenden und Andersglaubenden.

Wie aber können wir uns, überlegt der Autor, von einem Christentum befreien, das sich ausschließlich als eine Opferreligion versteht, „die tödliche Gewalt mit Gott verbindet und damit legitimiert“, und wie bekommen wir ein glaubwürdiges, friedfertiges Christentum? Indem wir, so Koch, das ureigene Evangelium Jesu in den Blick nehmen, seine Botschaft von der Vertrauenswürdigkeit des nicht „gnädigen“, sondern gütigen Gottes. Sie dürfe nicht weiter einer Lehre zum Opfer fallen, die den Menschen in Leben und Tod als angewiesen sieht auf eine „Erlösung“, die auf einer vorgeblich gottgewollten Gewalttat beruht. Es gelte somit, Abschied zu nehmen von der gesamten Vorstellungswelt des Sühneopfers Christi und auf Konvergenzpunkte zwischen den Religionen zu achten. Sie alle vertreten nämlich (Koch beruft sich auf eine Aussage von Leonardo Boff) „Gerechtigkeit, suchen Eintracht, fördern Solidarität, predigen Liebe und Vergebung und zeigen Sensibilität für die Armen und Verdammten der Erde. Hier gibt es einen Weg, der zum Frieden und zum geschwisterlichen Zusammenleben aller führt.“

Der ehemalige Superintendent Herbert Koch holt häufig weit aus und zitiert kenntnisreich Theologen, Philosophen, Schriftsteller und allerlei andere kluge Leute. Er geißelt die christlichen Kirchen wegen ihrer einseitigen Sicht und Auslegung der Erbsündenlehre mit scharfen Worten. Abzuwarten bleibt, was wohl eingefleischte fromme Christen zu seinen Ausführungen sagen. Werden sie dem Autor zustimmen oder werden sie ihm vorhalten, dass man der christlichen Botschaft nicht mit bloßer Ratio und messerscharfer Logik oder gar mit dem gesunden Menschenverstand naiv beikommen könne? In diesem Punkt mögen sie wohl Recht haben, schließlich ist manches tatsächlich absurd und kaum nachzuvollziehen in Bibel und Religion und schon gar nicht in der etablierten Kirche, doch etwas menschenfreundlicher, versöhnlicher und froher könnte die sogenannte „Frohe Botschaft“ durchaus an Gläubige und Zweifelnde herangetragen werden. Denn mit Angst, Drohungen oder gar mit Gewalttaten wird dem Christentum wahrlich kein guter Dienst erwiesen.

Titelbild

Herbert Koch: Der geopferte Jesus und die christliche Gewalt.
Patmos Verlag, Düsseldorf 2009.
237 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783491725386

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