Klassiker im Prachtgewand

Die historisch-kritische Ausgabe der Werke von Christoph Martin Wieland

Von Mark-Georg DehrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mark-Georg Dehrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Editionsphilologisch gesehen, schien über dem Klassiker Christoph Martin Wieland ein Fluch zu walten. Die Weimarer Dioskuren Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller, auch der vierte im Bunde, Johann Gottfried Herder, haben große Ausgaben, die zumindest zum Zeitpunkt ihres Erscheinens dem philologischen state of the art entsprachen. Ausgerechnet im Fall Wieland fehlte eine solche Edition. Dabei hatte er selbst hier neue Standards gesetzt. Von 1794 an gab er seine „Sämmtlichen Werke“ heraus. Während er die Texte noch einmal gründlich umschmolz oder zumindest polierte, kümmerte sich sein Verleger Georg Joachim Göschen um ein angemessenes Erscheinungsbild: Er setzte eine gewaltige Maschinerie in Gang und produzierte ein Klassikermonument in vier Varianten – vom wohlfeilen Billigdruck bis zur prachtvollen Fürstenausgabe.

Der späteren Germanistik fehlte es dabei durchaus nicht an gutem Willen. Zu Wielands Ehrenjahren entwickelte sich regelmäßig eine beachtliche Betriebsamkeit. Nachdem Bernhard Seuffert 1904 eine umfassende Akademie-Ausgabe projektiert hatte, war 1913, zu Wielands 100. Todestag, mit einigen Bänden der Anfang gemacht worden. Dann aber stockte das Vorhaben für zwei Jahrzehnte. Neuen Schwung bekam es erst wieder 1933, zu Wielands 200. Geburtstag. 1939 aber war es auch hiermit einstweilen wieder vorbei. Der 150. Todestag Wielands sah den Beginn der großen Briefausgabe der Berliner Akademie, die vor wenigen Jahren auch abgeschlossen wurde. Die andauernde Misere des eigentlichen Werks führte dazu, dass zum 250. Geburtstag ein verdienstvoller Nachdruck der wohlfeilen Göschen-Ausgabe auf den Weg gebracht und seinerseits zum günstigen Preis vertrieben wurde.

Nun, zu Wielands 200. Todestag, scheint sich sein Blatt zu wenden. Unter der Herausgeberschaft von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma erscheinen seit dem vergangenen Herbst Wielands Werke in einer historisch-kritischen Ausgabe. 36 Doppelbände sind vorgesehen, die sich jeweils in Text und Kommentar aufteilen. Die Illustrationen und die Noten zu den Singspielen sollen in zwei Supplementen versammelt werden. Laut Editionsplan werden im Jahr 2013 nicht weniger als 29 der 74 Bände auf dem Gabentisch des Jubilars liegen. Bis 2020 soll die Ausgabe abgeschlossen sein.

Diesen Plan kann man getrost als ehrgeizig bezeichnen. Der editorische Sprint scheint die Gefahr bannen zu wollen, dass dem Projekt auf der langen Strecke die Luft ausgeht. Allerdings ist die Klärung der Textlage bei Wieland nicht zuletzt durch die Akademie-Vorarbeiten weit fortgeschritten. Die Bewältigung des anspruchsvollen Parcours ist dem Unternehmen also durchaus zuzutrauen.

Die beiden vorliegenden Textbände lassen schon ahnen, was die Ausgabe konkret verspricht. Wielands Restitution als Klassiker für die Gegenwart kann man ihr wohl nicht zumuten. Dafür aber wird der interessierte Benutzer komfortabel den Aufstieg eines der ersten literarischen Stars im deutschsprachigen Raum beziehungsweise des ersten deutschen Klassikers unter den Bedingungen der Autonomisierung des Literatursystems verfolgen können.

Der Weg dahin war weit für Wieland. Am Beginn stand der prätentiöse Teenager der 1750er-Jahre. In seinen Versepen, moralischen Dichtungen und kritischen Beiträgen ging so manches eine beeindruckende und irritierende Mischung ein: schwärmerisches Christentum, die felsenfeste Überzeugung, ein letztgültiges Tugendsystem entwickelt zu haben, und nicht zuletzt literarischer Ehrgeiz. Schon hier arbeitete Wieland mit Nachdruck daran, nicht nur seine Werke im kritischen und literarischen Betrieb der Zeit zu verankern, sondern auch eine eigene entsprechende Identität als Autor nach außen zu kehren. Erste Werksammlungen und ständige autobiografische Reflexion über seine innere Entwicklung stellten der literarischen Öffentlichkeit schon um 1760 immer wieder die Autorpersona Wielands vor Augen. Als er sich von seinen – wie er sie selbst nennt – „mystisch-aszetischen“ Ansichten trennt, als er mit dem „Agathon“ den Bildungsroman begründet und mit seinen Verserzählungen eine erotische, aber dennoch sittliche Eleganz salonfähig macht, reflektiert er auch diese Wende. Das Tribunal der Kritik gibt sich zunächst irritiert, dann aber zunehmend ehrfurchtsvoll. Erste Übersetzungen Wielands ins Französische und Englische beginnen in dieser Zeit ebenfalls zu erscheinen. Sie tragen nicht wenig dazu bei, dass die Zeitgenossen ihn als den deutschen Klassiker akzeptieren, nach dem die Aufklärungskritik im imaginären Wettstreit mit den literarischen Kulturen Frankreichs und Englands suchte. Wielands konstante, elegante, witzige und weise Produktion, die Gründung des „Teutschen Merkur“ und die intensive Beschäftigung mit der Antike konsolidieren seinen Rang in der Folge. Die Werkausgabe bei Göschen bildet auch in dieser Hinsicht einen Höhepunkt. Wieland legt sie dezidiert als Dokument seiner geistigen Genese an. Der Gang des Werkes wird zum Dokument einer Bildung: Werk und Biografie erscheinen als Einheit. Eine über lange Zeit wirksame Vorstellung vom klassischen Dichter ist damit geboren.

Höchst sinnvoll ist insofern die Entscheidung der Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe, Wielands Schriften streng chronologisch anzuordnen, unabhängig von ihrer jeweiligen Gattung. Im „Band 8.1, April 1766 – Dezember 1769“ (bearbeitet von Klaus Manger) haben sich beispielsweise zwischen dem „Agathon“ und der „Musarion“ legitimerweise zwei kleine Texte eingeschlichen: ein knappes, 1767 in einer Zeitschrift publiziertes Schreiben Wielands und die in der Mainummer 1768 der „Deutschen Bibliothek“ vorabgedruckte Auswahl aus der Verserzählung „Idris“. Auf „Musarion“ folgen dann die vollständigen fünf Gesänge der (dennoch fragmentarischen) „Idris“, die im Oktober 1768 in Leipzig erschienen. In diese Chronologie werden auch die zahlreichen Vorreden, Zusätze, Vorberichte, Widmungen und Schreiben eingefügt, die die Werke begleiten und in Studien- und Einzelausgaben bekanntlich gerne weggelassen werden. Erst im Zusammenspiel von Werk und Paratexten zeichnet sich die Genese der Autorperson Wielands ab.

Auch in anderer Hinsicht bewährt sich die chronologische Anordnung. Denn sie macht die Kontinuität des Wieland’schen Denkens durch die verschiedenen Gattungen hindurch sichtbar. Band 9.1 (bearbeitet von Hans-Peter Nowitzki) etwa dokumentiert mit dem „Sokrates mainómenos“ und den „Beiträgen zur geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens“ Wielands Auseinandersetzung mit Jean-Jacques Rousseau. Die im Anschluss gedruckten „Grazien“ werden so gleichfalls als versifiziertes Antidot gegen den Genfer verständlich. In ihnen liefert Wieland eine eigene Theorie der Kulturentstehung aus der sublimierenden Verbindung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, körperlicher und geistiger Schönheit.

Über die durchdachte Konzeption der Ausgabe hinaus lässt sich die Leistung der Herausgeber freilich noch nicht ermessen. Hier gilt es, auf die Kommentarbände zu warten. Vor allem wird sich zeigen müssen, wie sich die geplante historisch-kritische Dokumentation unterschiedlicher Textfassungen bewährt. Vorgesehen ist es, tiefgreifend veränderte Texte – wie etwa die „Agathon“-Fassung von 1794 – jeweils an ihrem chronologischen Ort nochmals integral abzudrucken. Weniger eingreifende Überarbeitungen soll dagegen ein kritischer Apparat im Kommentar dokumentieren. Bei der Unterscheidung beider Fälle ist editorischer Takt gefragt, der sich von Fall zu Fall bewähren müssen wird. Ebenso kann man auf die Art und das Ausmaß der Kommentierung gespannt sein. Wielands Anspielungsreichtum ist groß, aber er operiert mit Vorliebe schlagworthaft, so dass sich die Quellensuche – beziehungsweise die Entscheidung, ob einer Anspielung überhaupt eine konkrete Quelle zugrundeliegt – nicht einfach gestalten dürfte.

Äußerlich sind die Bände der historisch-kritischen Ausgabe schon jetzt eine Freude. Sie kommt im gediegenen Quarto daher und lehnt sich in der äußeren Gestaltung an die Horaz-Übersetzungen Wielands an, mit denen Franz Greno in den achtziger Jahren die Wieland-Liebhaber erfreute. Für die Gestaltung zeichnet Friedrich Forssmann verantwortlich. Auch die Schrifttype ist mit Sorgfalt gewählt: Es handelt sich um eine Adaption der Prillwitz-Antiqua, die eigens für die Göschen-Ausgabe geschnitten worden war. Das neue Monument Wielands muss sich nicht vor der ästhetischen Vollendung verstecken, mit der die kostspieligeren Ausführungen der Göschen-Ausgabe auftraten. Für den weiteren Inhalt darf man ebenfalls das Beste hoffen.

Titelbild

Christoph Martin Wieland: Sämtliche Werke. Band 9.1. Sokrates mainomenos oder die Dialogen des Diogenes von Sinope. Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens. Combabus. Die Grazien. Der Neue Amadis. Gedanken über eine alte Aufschrift. Rezensionen.
Herausgegeben von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma.
De Gruyter, Berlin 2008.
773 Seiten, 249,00 EUR.
ISBN-13: 9783110212150

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Titelbild

Christoph Martin Wieland (Hg.): Sämtliche Werke. Band 8.1. April 1766 - Dezember 1769: Geschichte des Agathon. Endymions Traum. Musarion, oder die Philosophie der Grazien. Idris. Nadine. Chloe. Vorberichte und Zusätze. Band 1: Text.
Herausgegeben von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma.
De Gruyter, Berlin 2008.
770 Seiten, 249,00 EUR.
ISBN-13: 9783110188813

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