Gesteigerte Lust?

In „Jenseits des Unbehagens“ umkreist Eckart Goebel die Idee der Sublimierung

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist es nicht eine herrliche Koinzidenz, dass dieses Buch des in den USA lehrenden Germanisten Eckart Goebel über die modernen Schicksale des Begriffs und der Idee der Sublimierung simultan mit dem von der Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal intonierten und weithin vernommenen Hymnus auf die weibliche Vulva erscheint?

Um so delikater ist dieses Zusammentreffen zweier komplementärer Schriften über anthropologische und kulturtheoretische Essentialien, als der frühe Sigmund Freud in seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, in denen er den Terminus „Sublimierung“ erstmals in die psychoanalytische Theorie einführte, dekretiert hatte, „daß wir die Genitalien selbst, deren Anblick die stärkste sexuelle Erregung hervorruft, eigentlich niemals als ‚schön‘ empfinden können“. Und nur kraft und infolge der Ablenkung des animalisch auf das Anstarren und Beschnüffeln der Geschlechtsteile gerichteten Sexualtriebs auf den mit fortschreitender Kulturentwicklung zunehmend sich verhüllenden menschlichen Körper ist laut Freud unser Sinn für das optisch Schöne, fürs „Künstlerische“, für das kulturell Höhere überhaupt, erst entstanden – eine Ambiguität, deren Prämissen und Implikationen Goebel im einschlägigen Freud-Kapitel ausführlich erörtert.

Soviel lässt sich also trotz aller begriffs- und theoriegeschichtlichen Unklarheiten sagen, dass hinter Freuds Erstverwendung von „Sublimation“ der – auch damals schon keineswegs originäre – Gedanke stand, das emphatisch Kulturelle erhebe sich aus dem krud Natürlichen, seinem inferioren Widerpart. Das ominöse „Unbehagen in der Kultur“ rührt eben daher, dass Sublimation im Verständnis des Vaters der Psychoanalyse durchaus nicht nur zum beglückenden Hochgefühl der verfeinerten Lust leitet, sondern vor allem auch erzwungenen Triebverzicht, ergo Repression bedeutet.

Mit seinem Buchtitel rekurriert Goebel antithetisch auf die antiegalitaristische Illusionslosigkeit der kulturtheoretischen Schriften Freuds, die schließlich in die kühle Apologie eines Hobbes’schen „Leviathan“ mündet, und stellt sieben recht eigenständige, zum Teil bereits andernorts publizierte Aufsätze zusammen, deren analytischer Scharfsinn, textphilologische Kombinationskunst und pointierte Diktion den Leser erfreuen, der kein systematisches Lehrbuch mit Einführungscharakter erwartet. Statt dessen bietet sich ihm eine Lektüre, die – zuweilen droht gar Höhenschwindel – zu weiten Ausblicken über die Abgründe der Conditio humana führt.

„Jenseits des Unbehagens“ votiert für eine Theorie der Kultur, die dem produktiven, optimistischen, mithin emanzipatorischen Moment von Sublimierung vertraut, weil sie das einzwängende, pessimistische und repressive als umgehbar erkannt hat. Zeugenschaft für ein solches Aufscheinen „behaglicher“ Sublimation in prominenten Texten des 20. Jahrhunderts findet Goebel bei Thomas Mann („Herr und Hund“), bei Theodor W. Adorno („Aus Sils Maria“) und am Ende bei Jacques Lacan („Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar VII“). Das Präludium, untertitelt mit „Goethe als Paradigma und als Provokation“, liefert eine sublimationstheoretisch inspirierte Auslegung der „Trilogie der Leidenschaft“, speziell der „Marienbader Elegie“, deren dem „Tasso“ entnommenes Motto („Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide.“) laut Goebel „das Sublimierungstheorem in nuce formulier[t]“. Auch derjenige, der das bislang noch nicht so gesehen hat, wird aber einer anderen, der „Elegie“ abgewonnenen Einsicht beipflichten, zumal dann, wenn er dem Eros des Platonischen „Gastmahls“ zugetan ist: „Sublimierung tritt nicht an die Stelle der Liebe, sondern wird möglich durch Liebe, die die Welt erhebt.“

Während Goebel in seinem Johann Wolfgang von Goethe gewidmeten Kapitel ein Verständnis ästhetischer Sublimation erarbeitet, welches hohe Kunst als „die Erscheinung des Sublimen, des schlechthin Großen“ fasst, scheint es, als stehe er im Thomas-Mann-Teil zunächst der popularpsychologischen Sicht nicht fern, derzufolge beim Dichter der „Trilogie der Leidenschaft“ ein „Prozess sublimierender Verarbeitung frustrierter Triebwünsche […] durch das Werk vollzogen“ sei. Anders verhalte es sich bei Mann, dessen bewundernde Hinneigung zum Weimarer Giganten ebenso außer Zweifel steht wie seine intimen Kenntnisse der Freud’schen Lehre. (Immerhin war er einer der ersten, der die Verwandtschaft der Metapsychologie der Triebe mit der Schopenhauer’schen Metaphysik des Willens diagnostizierte.)

Mann habe also, anders als Goethe, in seinen Dichtungen nicht bloß sublimiert, sondern darüber hinaus den Prozess des Sublimierens zum Thema gemacht: „Sublimierung qua Darstellung der Sublimierung, so lautet die epische Reflexionsfigur bei Thomas Mann, wenn man überhaupt behaupten möchte, er sublimiere durch den Schreibprozess.“ – Nun ja, wenn man das „überhaupt behaupten möchte“. Wie soll das der lernwillige Leser entscheiden, wenn schon der fachkundige Autor schwankt? Jedenfalls inszeniere, so Goebels Konklusion, Manns Idyll „Herr und Hund“ das beglückende Unisono von Natur und Kultur – eine, recht besehen, avantgardistische literarische Konstruktion, der die „sentimentalisch“ getönte Vorstellung zugrunde liege, wonach Natur „ihrerseits nach Vergeistigung, Sublimierung, strebt“.

Der Autor lässt die Frage beiseite, ob und inwieweit der Gedanke des in der Natur selbst vorwaltenden Sublimierungsstrebens in Abhängigkeit von der philosophischen Anthropologie Max Schelers steht, der diesen Gedanken ebenfalls in den 1920er-Jahren explizit entwickelte. Ebensowenig schenkt Goebel der möglichen Herkunft dieser ins Mystische hineinreichenden Denkfigur aus der romantischen Naturphilosophie die womöglich gebührende ideengeschichtliche Aufmerksamkeit, findet sie dann aber, aktueller, bei Adorno (unter der Kapitelüberschrift „Sublimierung der Natur“) wieder:

„Natur, nicht länger vom Geist unterdrückt, befreit sich von dem verruchten Zusammenhang der Naturwüchsigkeit und subjektiver Souveränität.“ So hatte es Adorno im Kontext seiner Reflexionen über das Erhabene bei Immanuel Kant in der „Ästhetischen Theorie“ auf eine Formel gebracht. Doch hatte er tatsächlich selbst – quasi als desultorische Epiphanie – das Naturschöne in seiner dem Entfremdungszusammenhang entronnenen Gestalt erahnen können, und zwar in Sils Maria, wo er zusammen mit seiner Frau von 1955 bis 1966 in jenem von Georg Lukács bespöttelten „Grand Hotel Abgrund“ in der Aura Friedrich Nietzsches und anderer großer Geister des Abendlands ein paar schöne Ferien verbrachte. In den Erinnerungsskizzen „Aus Sils Maria“ findet Goebel eine Notiz, die er als paradigmatisch für das Innewerden der Sublimierung zitiert: „Mit sichtlichem Behagen marschieren in den Bergen die Kühe auf den breiten Wegen, welche die Menschen angelegt haben, ohne viel Rücksicht auf diese. Modell dafür, wie die Zivilisation, die Natur unterdrückte, der unterdrückten beistehen könnte.“

In jenem von Goebel angesprochenen Passus der „Ästhetischen Theorie“ hatte Adorno aber auch erklärt, „[ä]sthetische Spiritualität“ habe „von je mit dem ‚fauve‘, dem Wilden besser sich vertragen als mit dem kulturell Okkupierten“. Schade nur, dass Goebel diese dezidiert antisublimatorisch orientierte Sentenz nicht mitzitiert, denn sonst hätte es sich gewiss angeboten, auch an jene berühmte Stelle aus „Amorbach“ zu erinnern, die Adorno im selben Jahr wie die Silser Impression zur Veröffentlichung brachte und in der er über die „gezähmte Wildsau von Ernsttal“ räsoniert, die „ihre Zahmheit […] vergaß“ und die „laut schreiende“ Gattin des Eisenbahnpräsidenten Stapf „auf den Rücken […] nahm“ und davonraste. – Ein Inbild der sich jenseits allen sublimen Behagens emanzipierenden Natur!

Christliche Gnadentheologie lutherischer Provenienz und psychoanalytische Heilsmetaphysik à la Lacan amalgamiert Goebels Schlusskapitel zu einer hochspekulativen Erlösungs- und Versöhnungsvision, deren Quintessenz der Autor im Allegro maestoso seines Vorworts folgendermaßen akzentuiert: „In der Sekunde, in der das Subjekt das Grauen der Hilflosigkeit durchdringend erfährt, eröffnet sich die Möglichkeit, die Vaterposition einzunehmen und die Knechtschaft des Imaginären abzuwerfen. In Luthers ekstatischer Beschreibung der drei Lichter, des schwachen Lichts der Natur, des flackernden Lichts der Gnade und des gleißenden Lichts der Herrlichkeit sieht Lacan diesen spirituellen Prozess einer heilenden Verbrennung des narzisstischen Imaginären dokumentiert, an dessen Ende Sublimierung erkennbar wird als die via regia zur Erschließung der wirklichen Welt.“

Was hätte wohl Nietzsche zu dieser Respiritualisierung gesagt? Hat nicht kürzlich noch Peter Sloterdijk unseren Blick für den antispiritualistischen Impetus von Nietzsches Appell an unsere „anthropotechnischen“ Selbststeigerungskapazitäten geschärft? Und liegt nicht Goebels Nietzsche-Lektüre im wegweisenden dritten Kapitel von „Jenseits des Unbehagens“ ganz auf Sloterdijks Linie, wenngleich er außer der „Kritik der zynischen Vernunft“ im Literaturverzeichnis keinen weiteren Titel Sloterdijks ausweist?

Hatte dieser seinem jüngsten Großwerk („Du mußt dein Leben ändern“, 2009) das asketische Motto aus Nietzsches „Morgenröthe“ vorangestellt: „Vor Allem und zuerst die Werke! Das heisst Übung, Übung, Übung! Der dazugehörige ‚Glaube‘ wird sich schon einstellen – dessen seid versichert!“, so bringt Goebel diese antilutherische Parole als Schlusspointe des mit „Übung“ überschriebenen Abschnitts seines Nietzsche-Kapitels („Verklärte Physis“). Und beide greifen rezeptiv auf Manns Aufsatz „Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“ von 1947 zurück: Sloterdijk mit der Übernahme der Artisten- und Akrobatenmetaphorik, Goebel, indem er Manns Prädikat „Schwachsinn“ für die überspannten und enthemmten Kraftmeiereien Nietzsches affirmierend wiederholt.

Schließlich sind sich Goebel und Sloterdijk hinsichtlich der Auffassung, dass bei Nietzsche grundsätzlich zwischen „guter“ und „schlechter“ Sublimation zu unterscheiden sei, einig: Diese führe zur Schwächung, jene zur Stärkung der Individuen und ihrer Kultur, ohne eben wiederum das allseits bekannte Unbehagen der Versagung zu produzieren. Ist Nietzsche also wieder einmal der Kulturheros, dessen – diesmal aber richtig verstandenen! – Lehren uns vor dem globalen Verfall der gottlos gewordenen Welt bewahren?

Da kommt nun das vom Dresdner Erziehungswissenschaftler und Nietzsche-Fachmann Christian Niemeyer bei der WBG herausgegebene „Nietzsche-Lexikon“ als Antidot gerade recht. Es will, ohne das Nüchterne, allzu Nüchterne zu scheuen, laut Vorwort „Aufklärung geben über die wichtigsten der Nietzsche betreffenden Sachverhalte“, und beansprucht, sich auf dem „aktuellen Stand der internationalen Nietzscheforschung“ zu bewegen, zumal ja nur die „Besten […], also die jeweils führenden Experten für die einzelnen Themengebiete“, eine Einladung zur Mitarbeit bekommen hatten.

Selbst wenn nicht jeder der von Niemeyer Angesprochenen der Einladung folgen konnte oder mochte, ist ein überaus respektables, die Handlichkeit gerade noch wahrendes Werk zustande gekommen, das man ohne jede Einschränkung als sehr hilfreich qualifizieren darf. Obwohl ein Lemma „Sublimation“ fehlt, geben doch Einträge wie etwa „Freud“, „Psychologie“, „Seele“, „Triebe“ oder „Der Wille zur Macht“ weiterführende und verlässlich kontextualisierende Auskunft auch über die von Goebel angerissenen und offengelassenen Fragen.

Herauszuheben wäre vielleicht der knappe, aber um so instruktivere Beitrag über das „Es“ von Bernd Nitzschke, einem Autor, der sich seit vielen Jahren mit seiner quellenarchäologischen Arbeit an den Verbindungsströmungen zwischen Psychoanalyse und Philosophie hervorgetan hat. „[E]in Gedanke kommt, wenn ‚er‘ will, und nicht wenn ‚ich‘ will“, zitiert Nitzschke Nietzsche. Diesen Befund wird manch einer seufzend bekräftigen, dem das Los zugefallen ist, seine libidinösen Primärenergien ausgerechnet auf dem Weg der Verschriftlichung seiner Gedanken zu sublimieren.

Titelbild

Eckart Goebel: Jenseits des Unbehagens. "Sublimierung" von Goethe bis Lacan.
Transcript Verlag, Bielefeld 2009.
280 Seiten, 28,80 EUR.
ISBN-13: 9783837611977

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Christian Niemeyer (Hg.): Nietzsche-Lexikon.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2009.
472 Seiten, 79,90 EUR.
ISBN-13: 9783534208449

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