Neue Leben, neues Schreiben?

Die „Wende“ 1989/90 zwischen Autobiografie und Fiktion

Von Fabian ThomasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Thomas

I.

Die politische „Wende“ 1989/90 kann als das für die deutsche Literatur wichtigste Ereignis der letzten zwanzig Jahre angesehen werden. Die Flut an Romanen, Theaterstücken, Gedichtbänden und Anthologien, aber auch an Essays, Dokumentarbänden, Reportagen und Erinnerungsbüchern ist mittlerweile auf eine fast unüberschaubare Zahl angewachsen.

Autobiografisches Erzählen steht in einem engen Zusammenhang mit den Ereignissen der Zeit 1989/90: für viele Zeitzeugen wurde es nach der „Wendezeit“ wichtig, das Erlebte in eigenen Worten darzustellen. Exemplarisch dafür stehen drei Romane von Autoren, die, aus verschiedenen Generationen stammend, die „Wende“ in einem jeweils unterschiedlichen Lebensalter erlebt haben. Für sie als Ostdeutsche bedeutete dieses Ereignis einen persönlichen Einschnitt, der in unterschiedlicher Weise literarisch verarbeitet wird.

Jana Hensel, geboren 1976 in Leipzig, beschreibt in „Zonenkinder“ (2002) aus der Sicht einer Vierzehnjährigen nicht nur die Auflösung der DDR, sondern das Ende der Kindheit einer ganzen Generation. Dieser Generation gibt sie den Namen „Zonenkinder“. In Ingo Schulzes 2005 erschienenem, äußerst umfangreichem Roman „Neue Leben“ geht es um die Erlebnisse von Enrico Türmer, einer Figur, die ebenfalls einige autobiografische Parallelen zu Schulze aufweist. Beide haben kurz vor der „Wende“ eine Schauspielintendanz in Altenburg inne und sind zur „Wendezeit“ Mitbegründer einer Wochenzeitung, die in einem Anzeigenblatt aufgeht.

Christoph Hein schließlich, geboren 1944 in Schlesien, erzählt in „Landnahme“(2004) aus mehreren Perspektiven die Geschichte von Bernhard Haber, einem Tischler, der als Kind eingewanderter Ostpreußen in der neu gegründeten DDR aufwächst und nach den „Wende“-Jahren auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken kann. Auch hier ist ein autobiografischer Bezug vorhanden, der sich in einer besonderen Weise auf die Romanhandlung auswirkt: wie Bernhard Haber ist auch Christoph Hein das Kind einer Aussiedlerfamilie aus Ostpreußen und hat ähnliche Kindheitserfahrungen in der noch jungen DDR gemacht.

II.

Der Ruf der Literaturkritik nach „dem deutschen Wenderoman“ ist ein prägende Phänomen der jüngeren deutschen Gegenwartsliteratur. In den 1990er-Jahren bisweilen voller Ungeduld erwartet, wurde die angemessene literarische Verarbeitung der Wiedervereinigung in den Romanen von Günter Grass, Thomas Brussig oder auch Ingo Schulze gesucht, gefunden, und ebenso oft auch wieder verneint. Die von mir untersuchten Romane, alle nach dem Jahrtausendwechsel erschienen – „Zonenkinder“, „Landnahme“ und „Neue Leben“ – fallen in eine Zeit der Resignation über den immer noch fehlenden „Wenderoman“. Jana Hensel wurde bescheinigt, gerade dadurch hervorzustechen, dass sie die kleine Form gewählt habe; Christoph Heins Buch wurde in einer Besprechung als „der große Deutschlandroman“ begrüßt. Bei Schulze schwankten die Kritiken: anspielend auf den großen Umfang des Romans sprach die „Zeit“ von „einem dicken, im eigenen Erzählfett schwimmenden simplen Roman“; die „Literarische Welt“ dagegen kam sogar zu dem Urteil: „das ist nicht Wende-, das ist Weltliteratur!“

Die literaturkritische Sichtweise spielt bei der literaturwissenschaftlichen Betrachtung eine nicht zu unterschätzende Rolle: Zum einen, weil die untersuchten Romane in den großen Feuilletons ausführlich rezensiert wurden, was als eine Nachwirkung der „Wenderoman“-Debatte verstanden werden kann. Andererseits liegen gerade bei den jüngeren Autoren Jana Hensel und Ingo Schulze nur wenige umfassende literaturwissenschaftliche Analysen vor, so dass die feuilletonistische Kritik hier eine fruchtbare Ergänzung für die Analyse bilden kann.

III.

Ein die gewählten Texte verbindendes Element ist der autobiografische Rekurs auf die „Wende“-Ereignisse, der auf unterschiedliche Arten hervortritt. „Zonenkinder“ wurde als ein „Bericht“, als „Essay“, aber auch als „Roman“ bezeichnet. Der sehr persönliche und kindlich-naiv gestaltete Blick bestimmt Jana Hensels Schreibweise; gleichzeitig bewirkt sie durch die häufig benutzte „Wir“-Form die Übertragung der persönlichen Erlebnisse auf die Erlebnisse einer ganzen Generation von „Zonenkindern“. Dies stellt Hensels Buch dem wenige Jahre zuvor erschienenen Bestseller „Generation Golf“ (2000) von Florian Illies gegenüber, der in ähnlicher Weise wie Jana Hensel über seine Kindheit im Westen erzählt. Auch mit der Popliteratur der 1990er-Jahre wurden Zusammenhänge hergestellt.

Ingo Schulze wählt in „Neue Leben“ die Briefform und setzt sich selbst gewissermaßen als Figur in den Roman ein, indem er vorgibt, Enrico Türmers Briefe herauszugeben, und diese fortlaufend in Fußnoten kommentiert. Geschaffen werden so eine Aura der Authentizität und eine fast dokumentarische Nähe zum „Wende“-Geschehen, sowie eine große emotionale Nähe zum Protagonisten. Ironischerweise an Ingo Schulze selbst angelehnt, ist die fingierte Biografie der Hauptperson von der zugrunde liegenden Autobiografie Schulzes bisweilen nicht mehr zu unterscheiden.

Bei Christoph Hein dagegen ist es der fast verschwundene Erzähler, der seinen Roman charakterisiert. Die Handlung ist eingebettet in eine nur wenige Seiten umfassende Rahmenerzählung einer Karnevalsveranstaltung im sächsischen Guldenberg, die von einem extradiegetischen Erzähler wiedergegeben wird. Zwischen der Rahmenerzählung liegen sieben Kapitel, die je ein Bekannter oder eine Bekannte der Hauptperson Bernhard Haber erzählt. Diese intradiegetischen Erzählinstanzen sind Teil der Handlung und bringen auch ihre eigenen Biografien in ihre Erzählungen mit ein. Abwesend in dieser Konstellation ist Haber selbst, der nie als Subjekt, sondern stets als Objekt in den Erzählungen um seine Person vorkommt.

IV.

Schon zum zehnjährigen Jubiläum der „Wende“ diagnostizierte der Germanist Volker Wehdeking einen ersten „Mentalitätswandel“ in der deutschen Literatur zur Einheit. Eine Veränderung in der Auseinandersetzung der Schriftsteller mit der „Wende“ setzt etwa ab diesem Zeitpunkt ein.

Auffällig ist, dass die literarische Gestaltung der hier ausgewählten Texte sehr variationsreich ist: Jana Hensel greift Techniken der Popliteratur auf und nutzt sie für ihr Ziel, die Vergangenheit zu erfassen und für sich zu konservieren. Ihr unbeschwerter Umgang mit der DDR-Vergangenheit steht im Einklang mit einer ganzen Generation junger Autorinnen und Autoren, die den SED-Staat als Ort ihrer Kindheit neu entdeckten. Da die individuelle Erinnerung für viele Altersgenossen Hensels im Vordergrund stand, löste der „Wir“-Ton des Buches allerdings auch Irritationen aus. Dies zeigt, dass das Thema DDR auch zur Zeit der Veröffentlichung von „Zonenkinder“ noch sehr emotional besetzt war, oder sogar (über die „Ostalgie“-Welle) verklärt und romantisiert wurde.

Ingo Schulzes Roman hingegen ist ein komplexes Gebilde aus literaturgeschichtlichen Referenzen, biografisch-fiktionaler Vermischung und Ironie, das Authentizität in einer grundsätzlichen Weise in Frage stellt. Der Autor verarbeitet seine eigene Biografie und seine schriftstellerischen Versuche in der DDR über die Figur Enrico Türmers kritisch. Zusätzlich macht er die fiktive Lebensgeschichte seiner Hauptfigur über Rückgriffe auf die Literaturgeschichte, insbesondere die Romantik, literarisch produktiv. Die Aktualisierung verschiedener literarischer Motive im Zusammenhang mit dem „Wendegeschehen“ 1989/90 bringt so den „Wenderoman“ als „Künstlerroman“ auf eine neue Ebene.

Mit zunehmendem zeitlichen Abstand werden die Möglichkeiten des Schreibens über 1989/90 variabler: es ist nun möglich, auch parodistisch auf frühere literarische „Wende“-Verarbeitungen Bezug zu nehmen. Die Frage nach einer „Zäsur in der ‚Wendeliteratur‘“ kann also bei Schulzes Roman positiv beantwortet werden.

Bei Christoph Hein lässt sich beobachten, wie ein Einzelschicksal über eine nicht weniger komplexe Figurenrede vermittelt erzählt wird, mit dem Resultat, dass der Protagonist nur über unzuverlässige Angaben charakterisiert werden kann. Dem zielgerichteten Geschichtsbild des Sozialismus wird die harsche Kritik eines Außenseiters gegenüber gestellt, der ohne Rücksicht auf Verluste zum Aufsteiger wird. Das individuelle Leben überwiegt vor der Weltgeschichte, wie auch die fast nebensächliche Schilderung der „Wende“ 1989/90 zeigt. Diese, das Persönliche betonende Erzählweise, setzt eine Tradition Christoph Heins fort, die seit Anfang der 1990er-Jahre in seinem erzählerischen Werk zu beobachten ist. Als Erzähler hält sich Hein, verglichen mit den beiden anderen untersuchten Werken, am meisten zurück: Es können zwar biografische Parallelen zwischen seiner Person und der Hauptfigur Bernd Haber hergestellt werden. Zusätzlich haben aber die von Hein zwischengeschalteten Erzähler mit ihren eigenen Lebensgeschichten ein starkes Gewicht. Neben die autobiografischen Grundzüge, die mit Bernhard Haber als fiktiver Figur verbunden werden, treten also auch die fiktiven Autobiografien der Einzelerzähler.

Die hier erwähnten Werke sind zwischen 2002 und 2005 erschienen. Durch die Auswahl der Autoren aus drei unterschiedlichen Generationen wurde ein weitgefächerter Blick auf die Thematik Autobiografie und Fiktion im Zusammenhang mit der „Wende“ 1989/90 ermöglicht. Für das zweite Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung lässt sich auf der Ebene der Literatur damit durchaus sagen, dass persönliches – autobiografisches – Erinnern bei allen drei Autoren im Mittelpunkt des Interesses steht. Die Verarbeitung des Erlebten hat aber drei höchst unterschiedliche Formen angenommen, was zum Bild einer weitgehend inhomogenen Gegenwartsliteratur – jenseits von Diskussionen um singuläre Phänomene wie „den Wenderoman“ – beiträgt. Fest steht, dass sich die deutsche Gegenwartsliteratur seit 2002 auf vielfältige Weise mit dem Thema der „Wende“ 1989/90 auseinandergesetzt hat, auch ohne die „Schreibbefehle“ der Literaturkritik zu befolgen. Die Motivation, den „großen Wenderoman“ zu schreiben, wird geringer, stattdessen rückt die Autobiografie als Geschichte des individuellen Erinnerns (auf individuelle Weise umgesetzt) mit steigender Entfernung zu den Ereignissen in den Vordergrund.

Im Herbst 2009 jähren sich die Umwälzungen in der DDR, die 1989 begannen, zum zwanzigsten Mal. Wie aktuell die DDR in der deutschsprachigen Literatur nach wie vor ist, zeigen Neuerscheinungen wie das 2007 erstmals veröffentlichte Romanmanuskript „Rummelplatz“ von Werner Bräunig, eine kritische Bestandsaufnahme des DDR-Alltags der 1950er-Jahre, die in den 1960er-Jahren aufgrund von Verboten nur in Auszügen veröffentlicht werden konnte. Herausgegeben mit einem Vorwort von Christa Wolf, wurde „Rummelplatz“ von der Kritik als „toller literaturhistorischer Fund“ begrüßt.

Jüngere Autoren wie Clemens Meyer und Jan Böttcher beschreiben in ihren zwischen 2006 und 2008 erschienenen Romanen aus ihrer Sicht die „Wende“- und „Nachwendezeit“, der 1965 geborene Schriftsteller Marcel Beyer veröffentlichte im Frühjahr 2008 den Roman „Kaltenburg“ (2008). Die fiktive Lebensgeschichte des Verhaltensforschers Ludwig Kaltenburg von der Zeit des Nationalsozialismus bis zum Ende der DDR wurde in der „F.A.Z.“ als „meisterliche Vergegenwärtigung von Zeitgeschichte mit den Mitteln des Romans“ hervorgehoben. Im Herbst 2008 kam mit dem Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp der aktuellste Beitrag zur „Wendeliteratur“ in die Buchhandlungen. Tellkamp entwirft in diesem Roman ein Panorama der untergehenden DDR, und lässt seine Protagonisten, aus drei Gernerationen stammend, teils gestaltend, teils ohnmächtig, auf die Revolution zutreiben. „Der Turm“ wurde von Tellkamps Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz bereits vor Erscheinen als „der große Wenderoman der jüngeren Generation“ beschrieben. Hier zeigt sich, dass der Begriff des „Wenderomans“, dessen Problematik vermeintlich schon für beendet gehalten wurde, in der Zukunft doch wieder eine ungeahnte Rolle spielen könnte.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag basiert auf Fabian Thomas: Neue Leben, Neues Schreiben? Die „Wende“ 1989/90 bei Jana Hensel, Ingo Schulze und Christoph Hein. München: Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung 2009.