„Alles zerbricht“

In ihrer Studie „FragmentenSchrift“ geht Grazia Pulvirenti einem Paradoxon der Moderne nach

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Gertrude Stein konnte gar kein Zweifel daran bestehen, dass das 20. Jahrhundert alles bislang Dagewesene an Großartigkeit in den Schatten stellte: Es sei, so konstatierte die exzentrische Literatin 1938, eine Epoche, in der alles zerbreche und zerschlagen werde und in der nichts mehr einfach nur ‚normal‘ sei: Der rasante wissenschaftliche und technische Fortschritt ebenso wie die neuesten philosophischen und künstlerischen Entwicklungen hatten die konsensuale Kultur des 19. Jahrhunderts nachhaltig erschüttert und viele der zuvor als unumstößlich geltenden ‚Wahrheiten‘ scheinbar über Nacht hinweggefegt. Für Stein bedeutete dies eine ungeahnte Freiheit von überkommenen Zwängen und Vorstellungen; doch was die Postmoderne später als ‚anything-goes‘-Mentalität begeistert feiern sollte, empfanden viele von Steins Zeitgenossen als traumatischen Verlust von Sicherheiten. Dem großen „Auseinanderfallen“, das Friedrich Nietzsche als zeittypisch für die Moderne charakterisierte, versuchten daher auch viele Künstler neue Ganzheitskonzepte entgegenzustellen. Fündig wurde man da, wie etwa James Joyce, in der antiken Mythologie oder, wie Hugo von Hofmannsthal, in einer Verklärung der Welt des 18. Jahrhunderts. Dabei, so konstatiert die italienische Germanistin Grazia Pulvirenti in ihrem Band „FragmentenSchrift“, stellt gerade dieses „Streben nach dem Ganzen in Anbetracht des Phänomens der Fragmentierung eines der grundlegenden Merkmale der Ambivalenz und des Paradoxes der Moderne“ dar.

Diesem Spannungsfeld von Fragmentarität und Totalität widmet sich Pulvirenti, indem sie exemplarisch die Werke diverser modernistischer Künstler aus Österreich – nach Karl Kraus die „Versuchsstation des Weltuntergangs“ – untersucht. Diesen Einzelanalysen gehen jedoch zunächst umfangreiche theoretische Vorüberlegungen voraus: So gewinnt laut Pulvirenti das Fragment in der Moderne einen eigenen künstlerischen Wert und wird zum Ausdruck einer jeweils nur als utopisch anzunehmenden Totalität, die dem einzelnen Bruchstück gleichsam als „Gedächtnisspur“ eingeschrieben ist: „Die zerbrochene Figur der Totalität erscheint als Engramm einer untergehenden Welt.“ Der gerade aus diesem Totalitätsverlust resultierende Wunsch nach ‚Ganzheit‘ hat, so die Autorin, auch weitreichende Auswirkungen auf das Gebiet der Ästhetik: „Das Prinzip der Totalität, das ausschließlich als aporetisches Ziel utopischer Projekte dargestellt werden kann, zeigt sich nunmehr als eine flüchtige, momentane Epiphanie durch Offenbarungen und Fragmente.“ Neue Konzepte der Einheit eines künstlerischen Werks, Versuche, das nun als unsagbar empfundene ‚Absolute‘ ausdrücken zu können, aber auch intermediale Verschränkungen zwischen Einzelkünsten – nicht zuletzt in Form eines polymedialen ‚Gesamtkunstwerks‘ – waren nach Pulvirenti weitere ästhetische Folgen der allgemeinen Auflösungserscheinungen.

Betrachtungen „[Z]ur narrativen Verfremdung im Werk Adalbert Stifters“ bilden den Auftakt der Analysekapitel, wobei die Autorin nicht nur Stifters schriftstellerisches sondern auch sein bildkünstlerisches Werk berücksichtigt; hierbei konzentriert sie sich insbesondere auf die Analyse der Rolle der Farbgebung als paradigmatisches Mittel der Verfremdung. Im darauf folgenden Kapitel wendet sich Pulverenti den Libretti Hugo von Hofmannsthals zu und legt dar, wie vor allem im „Rosenkavalier“ und der „Ariadne auf Naxos“ „Fragmente und Bruchstücke der traditionellen literarischen Formen zu Zeichen eines Szenariums [werden], das den Untergang und gleichzeitig die Utopien der Moderne verlauten lässt.“ Insbesondere das Libretto des „Rosenkavalier“, angesiedelt in einer romantisch-idealisierten Version der Zeit Maria Theresias, birgt dabei ein hohes sowohl geschichtlich wie auch politisch eskapistisches Potential, dessen historische ‚Unzeitgemäßheit‘ schon wenige Jahre nach der Uraufführung der Oper 1911 deutlich zutage trat: „Mit dem Ersten Weltkrieges [sic] bricht das Prinzip einer übernationalen Einheit endgültig zusammen, das sich zuweilen als Erinnerung an eine goldene Vergangenheit, zuweilen als zukünftiges Ideal abgezeichnet hatte.“

Die Analyse der Verwendung von Farbadjektiven bildet erneut einen zentralen Aspekt in der sich anschließenden Untersuchung zu den „Musikalische[n] Strukturen und Farben in der Lyrik Georg Trakls“, wobei die Autorin besonderes Augenmerk auf den Versuch Trakls legt, vermittels des Evozierens einer „Urtonalität“ jenem metaphysischen ‚Absoluten‘ Ausdruck zu verleihen, das zumeist gerade erst im „Schweigen der Traklschen Worte zum Vorschein kommt.“ Angesiedelt an der „Schwelle zum Schweigen“ sieht die Autorin auch die Gedichte Franz Janowitz’, die, wie Pulverenti beklagt, bislang von der Literaturwissenschaft nur ansatzweise zur Kenntnis genommen wurden, denen allerdings auch sie mit zwölf Seiten nur das kürzeste Kapitel ihres Bandes widmet. Den Abschluss der Untersuchungen bildet mit „Das ‚Anders-Streben‘ der Künste“ ein Kapitel zur intermedialen Verschränkung von Einzelkünsten in der Moderne, in dessen Mittelpunkt Werke Wassily Kandinskys stehen.

Worin genau man die Meriten von Pulvirentis Band sehen wird, hängt sicherlich von der individuellen Interessenlage ab. Besonders gewinnbringend – und dies nicht nur für Germanisten – sind aber zweifellos ihre allgemeinen Überlegungen zum ambiguen Verhältnis von Fragmentarität und Totalität in der Moderne, in denen es Pulverenti gelingt, dieses facettenreich als zentrales modernistisches Paradoxon darzustellen; noch gewinnbringender wären diese Ausführungen jedoch ausgefallen, hätten sich die Autorin beziehungsweise die Übersetzerin Beate Baumann dabei einer größeren sprachlichen Luzidität bedient. Diese hätte der Wissenschaftlichkeit von Pulvirentis Ausführungen keinerlei Abbruch getan, hätte aber gewiss den Eindruck einer allzu großen akademischen Exklusivität gemildert.

Die Einzeluntersuchungen wiederum vermögen nicht alle gleichermaßen zu überzeugen, was zumindest teilweise darin begründet liegt, dass die Autorin – etwa im Fall von Trakls Gedichten – sehr ausführliche ‚close readings‘ der Texte liefert, dabei jedoch zuweilen ihre eigene Schwerpunktsetzung etwas aus dem Blick zu verlieren scheint, sodass die Verknüpfung zwischen den eigentlichen Interpretationen und den theoretischen Vorüberlegungen nicht immer selbstevident ist. Editorisch wenig glücklich wiederum ist die Integration der Abbildungen: Während der Anhang mit zwölf, teilweise farbigen Abbildungen aufwarten kann, sucht man im Text vergebens nach Hinweisen darauf, welches der zahlreichen erwähnten Werke im Band selbst auch reproduziert wurde. Dennoch: Die Lektüre von „FragmentenSchrift“ sei allen anempfohlen, die sich mit der Ästhetik der Moderne beschäftigen.

Titelbild

Grazia Pulvirenti: FragmentenSchrift. Über die Zersplitterung der Totalität in der Moderne.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2008.
176 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783826034947

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