Psychodarwinismus
Freud und Darwin, runderneuert durch Christopher Badcock
Von Eva Leipprand
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin Säugling nuckelt an der Mutterbrust. Er ist schon satt, aber er nuckelt weiter. Warum tut er das? Zum Spaß? Aus Liebe zur Mutter? Der Säugling nuckelt, so Christopher Badcock in seinem neuen Buch, "um die lebensbedrohliche Geburt eines Konkurrenten beim Kampf um Zuwendung und Aufmerksamkeit der Mutter hinauszuschieben." Der Autor liefert eine neue Deutung von Freuds "oraler Phase". Das Nuckeln an der Mutterbrust hat einen empfängnisverhütenden Effekt, kann also als Anpassung im Sinne des modernen Darwinismus verstanden werden, der den Organismus nur als Gefäß seiner Gene versteht. In diesem Sinn tut das Kind nichts anderes, als diesen Genen den Fortpflanzungserfolg zu sichern. Das allein ist es, was sein Verhalten bestimmt. Auch andere Freudsche Schlüsselbegriffe erklärt Badcock aus der Evolution. Die Angst des Kindes bei der "Urszene", dem Geschlechtsakt der Eltern, ist die Angst vor der Erschaffung eines Rivalen. Der "Penisneid" läßt sich erklären aus der Erkenntnis des Mädchens, dass es in den Augen der Eltern für den Fortpflanzungserfolg der Gene weniger taugt als ein Sohn. Der "Narzissmus" ist Ausdruck des für diesen Erfolg notwendigen Eigeninteresses. Freuds "Es", bei Badcock zum "ES" weiterdefiniert, ist nichts anderes als die Gesamtheit der Gene, die über das Lustprinzip für den Erfolg bei der Fortpflanzung sorgt.
Der Soziologe und Psychoanalytiker Christopher Badcock, der selbst noch bei Freuds Tochter Anna auf der Couch lag, möchte in seinem Buch vor allem zwei Thesen belegen. Zum einen hebt er die Parallelen zwischen Darwin und Freud hervor. Nach einer "Runderneuerung" der Freudschen Psychologie und der Darwinschen Evolutionstheorie aus heutiger Sicht versucht er deren Synthese, die er Psychodarwinismus nennt und als Instrument benutzt, um die Wechselwirkung zwischen Genen und menschlichem Verhalten zu untersuchen.
Zum zweiten verwendet Badcock viel Mühe auf den Nachweis, daß die beiden großen Forscher, obwohl sie von der Existenz der Gene noch nichts wußten, schon auf dem richtigen Weg und ihrer Zeit weit voraus gewesen seien. Freuds Wort vom Individuum als dem "sterblichen Träger einer unsterblichen Substanz" nehme den modernen Darwinismus vorweg.
Badcock erläutert seine Thesen klar und mit anschaulichen Beispielen. Sein Buch ist eine reizvolle Anleitung zum Aufbrechen anthropomorpher Denkformen, ein Blickwinkelwechseltraining. Der Computer mit Benutzeroberfläche und versteckten Dateien dient dabei als Demonstrationsmodell der menschlichen Psyche. Um zu zeigen, wie Täuschung als Mittel zu erfolgreicher Fortpflanzung genutzt werden kann, wird vom blaukiemigen Sonnenbarsch erzählt. Da gibt es schwache Männchen, die tun, als seien sie Weibchen und schleichen sich am starken Rivalen vorbei ins gemachte Nest. Wenn allerdings Badcock die gleiche Motivation auch dem menschlichen Transvestiten unterstellt, scheint sein Denkansatz zu weit getrieben. Überhaupt wachsen im Lauf der Lektüre Zweifel an der Zielrichtung der Arbeit. Dass beim Konflikt zwischen biologischem und kulturellem Determinismus ein Zusammenwirken der Faktoren angenommen wird, ist nichts wirklich Neues. Die zeitliche Differenz zwischen der unendlich langsam tickenden Gen-Uhr und dem sich in ungeheurer Beschleunigung entwickelnden Bewusstsein spielt bei den Überlegungen eine zu geringe Rolle. Vor allem aber in seiner Verteidigung Freuds wirkt das Buch rückwärtsgewandt. Freud wie auch Darwin haben keine Rechtfertigung nötig, ihre Leistung ist groß genug, auch wenn sich die Wissenschaft weiterentwickelt hat. So wie sie sich weiterentwickeln wird - mit der Theorie vom Egoismus der Gene ist ja keineswegs das letzte Wort gesprochen. Schließlich haben die Gene in ihrem Fortpflanzungswillen dem Menschen zu einem Gehirn verholfen, das ihn nun befähigt, ebendiese Gene selbst zu manipulieren und sich von einem bloßen Gefäß zu ihrem Herren aufzuschwingen. Viel spricht dafür, dass eine neue Phase der Evolution beginnt.