Surfen mit dem Sandmann

Steven Johnsons Studie über die kulturelle Revolution durch den Computer

Von Timo KozlowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Timo Kozlowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Computer hat unser Leben in den letzten zehn Jahren radikal verändert. Dies ist einer der Gemeinplätze, die man ohne Gefahr, etwas Falsches zu sagen, verwenden kann. Soweit, so nichtssagend. Steven Johnson, Mitbegründer des amerikanischen Online-Magazins "Feed", beschreibt in "Interface Culture" die kulturellen Auswirkungen des Computers und ordnet diese in einem breiten kulturellen und literarischen Kontext ein.

Interface Design ist für Johnson der entscheidende Triebmotor der Kultur. Diese Vermengung von Kunst und Technologie, über die ein Computer bedient wird, stellt Johnson als einen Weg dar, Informationen Sinn abgewinnen zu können. Hier sieht er auch einen Ansatzpunkt, um E. T. A. Hoffmanns "Der Sandmann", die viktorianischen Romane von Charles Dickens oder gothische Kathedralen mit graphischen Benutzeroberflächen zu verbinden.

Der Beginn des graphischen Interfaces liegt im Jahr 1968, als Doug Engelbart in San Francisco die Grundidee für heutige Benutzeroberflächen vorstellte. Zuvor basierten Bildschirmausgaben rein auf Text. Engelbarts Konzept hingegen zerlegt den Bildschirm in kleine Einheiten, Pixel genannt, die vom Computer einzeln schwarz oder weiß dargestellt werden können. Dadurch kann man auf dem Monitor nicht nur Buchstaben darstellen, sondern auch Graphik. Grundsätzlich hat sich an diesem Prinzip bis heute nichts geändert. Für die Eingabe präsentierte Engelbart ein damals exotisches Gerät, die Maus. Damit, so Johnson, sei es möglich gewesen, Informationen auf einer Fläche anzuordnen (analog zu den heutigen Icons auf dem Desktop) und die jahrtausendealte Idee vom Informationsraum und den Erinnerungspalästen somit tatsächlich umsetzbar. Für Johnson ist Engelbarts Präsentation so wichtig wie Luthers 95 Thesen in Wittenberg, nämlich die Grundlage, auf der sich "Windows", "MacOS" und Konsorten überhaupt entfalten konnten.

Die weitere Entwicklung der graphischen Oberfläche ist geprägt durch Metaphern, die auf den Computer angewendet werden. Die Büro-Metapher entstand bei der Firma "Xerox PARC", wo man sich mit Engelbarts Konzept beschäftigte. Alan Kay formte aus dem abstrakten Konzept die heute gebräuchliche Idee, der Bildschirmhintergrund sei ein "Schreibtisch", und das, an dem man gerade arbeite, seien die Dokumente. Mit dem "Apple Macintosh" trat die Büro-Metapher 1984 ihren Siegeszug an. Johnson stellt darüber hinaus weitere Versuche vor, die Metapher weiterzuentwickeln, und er kommt zu der Erkenntnis, dass solche Konzepte immer weniger angenommen werden, je genauer sie das wirkliche Leben simulierten.

"Fenster" erschienen, so Johnson, zunächst als ein Rückschritt. Denn da man sie verschieben kann, kann man sich die Daten nicht mehr räumlich einprägen: Gerade war der Brief noch unten, jetzt ist er plötzlich oben. Statt dessen sind Fenster für Steven Johnson die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Arbeitsmodi hin- und herzuschalten. In einem Fenster liegt der Brief, im anderen liegen die Adressen, und mit einem Klick hat man von der Textverarbeitung zur Datenbank gewechselt. In reinen Text-Interfaces sei ein solch einfacher Wechsel zwischen Bearbeitungsmodi nicht möglich.

"Links" beschreibt Johnson als das Heureka-Moment, das die Web-Benutzer ins Internet gezogen habe. Ironischerweise hätten die beiden großen Browseranbieter "Netscape" und "Microsoft" den Link in der Weiterentwicklung des Navigators bzw. Internet Explorers quasi links liegen lassen, und statt dessen ihren Programmen immer neue Fähigkeiten zu blinken und zu quietschen gegeben. Da der Link zwei Webpages semantisch verbinde, sei er ein Werkzeug, um mannigfaltige Elemente in eine Ordnung zu bringen. Johnson verbindet den Link mit dem viktorianischen Roman, vor allem dem von Charles Dickens. Die sogenannten Verbindungen der Assoziation (einer der Lieblingsausdrücke von Dickens) sind die treibende Kraft hinter den Geschichten seiner Romane- entstanden zu einer Zeit, als sich die feudalen Gesellschaftsstrukturen aufzulösen begannen, und die Industrialisierung die westliche Gesellschaft tiefgreifend veränderte. Die getrennten und wieder zusammengeführten Familienbande bei Dickens seien eine Möglichkeit, in der Zeit des Umbruchs eine gewisse Ordnung wieder erscheinen zu lassen. Die Unordnung heute liege darin, dass per Tastendruck zu viele Informationen abgerufen werden können, die nur durch Verbindungen geordnet und damit auch konsumierbar werden.

"Text" erscheint im Zeitalter graphischer Interfaces auf den ersten Blick als veraltete Schnittstelle. Auf dem Desktop werden Dateien nur nach äußeren Kriterien wie Dateiformat und Dateiname unterschieden, aber nicht nach inhaltlichen Gesichtspunkten. In Zeiten des Informationsüberflusses, das Johnson kommen sieht, ist es jedoch wahrscheinlicher, dass es Benutzeroberflächen geben wird, die bis zu einem gewissen Punkt den Dateiinhalt verstehen, und Dateien unter semantischen Gesichtspunkten anordnen können.

Schon im Vorwort schreibt Johnson, er hätte sich so weit wie möglich von Theoriedogmen entfernt. Dieses Versprechen hat er auch eingehalten: Pragmatisch und kenntnisreich präsentiert Johnson seine Beispiele aus der Geschichte der Computer und ihrer Benutzerschnittstellen. Der anfangs zitierte Satz von den Veränderungen in der Gesellschaft durch Computer stimmt natürlich. Steven Johnsons "Interface Culture" ist eines der Bücher, das sich überzeugend und ohne abgehobene Theoretisiererei mit diesen Veränderungen auseinandersetzt.

Titelbild

Steven Johnson: Interface Culture. Wie neue Technologien Kreativität und Kommunikation verändern.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999.
296 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3608919805

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