Jüdische Erfahrungen in Wien und Preußen
Ein Sammelband behandelt „Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938“ – und Julius Schoeps erzählt die Geschichte der Familie Mendelssohn in Preußen und im Deutschen Reich
Von H.-Georg Lützenkirchen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAuch mehr als 60 Jahre nach der Befreiung Deutschlands von der nationalsozialistischen Verbrecherdiktatur durch die alliierten Kriegsverbündeten gibt es nach wie vor Anlass, die Folgen der Naziherrschaft neu zu betrachten. Im Zentrum steht dabei immer wieder die Ermordung der europäischen Juden. Durch die unvergleichliche Massenmordaktion hat die Naziherrschaft ein trauriges Erbe hinterlassen: Der Tod der vielen Menschen schien auch das Ende ihrer Geschichte, ihrer Traditionen und ihrer Kultur zu bedeuten. Doch ging es nicht nur um das Verschwinden der ,anderen‘ Kultur, sondern auch um das Verschwinden gemeinsamer Geschichte und Kultur – mithin um eine Vergewisserung über die eigene Identität. Denn die Geschichte der Juden in Europa ist eng verwoben mit den Geschichten der Länder, in denen sie lebten. Besonders in Deutschland und Österreich entwickelte sich eine deutsch-jüdische Symbiose, die in einer einzigartigen kulturellen Blüte, kurz bevor sie von den Nazis zerstört wurde zum Ausdruck kam.
Zwei Bücher nähern sich den Auswirkungen dieser seit Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ entstandenen deutsch-jüdischen Annäherung. Der Band „Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938“ betrachtet eine kurze Phase des Neben- und Miteinanders deutsch/österreichisch-jüdischer Realitäten in der untergehenden K.u.K.-Hauptstadt Wien bis zur ,Eingliederung‘ in Nazideutschland. Julius Schoeps versucht in seinem Buch „Das Erbe der Mendelssohns“ die Bedeutung dieser Familie in der preußisch-deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte zu beleuchten.
Die Beiträge in dem Band „Wien und die jüdische Erfahrung“ gehen zurück auf eine Konferenz, die die Universität Wien im Jahr 2007 veranstaltete. Im Bewusstsein der eigenen Schuld, die die Universität vor 1945 an der Ausgrenzung und Verfolgung der Juden, aber auch danach an der Verdrängung der Verantwortung auf sich lud, will der vorliegende Band „die Größe der Wiener Jüdischen Kultur von 1938“ beleuchten und „damit die Tragweite des Verlustes begreifbar machen.“ Dafür ist es zunächst nötig, eine unbelastete Sichtweise auf den jüdischen Einfluss zu gewinnen. Gewissermaßen als Gegenbewegung zur langjährigen Verdrängung der Vergangenheit entstand ein idealisierter Blick auf die spezielle jüdische Vergangenheit, eine Art „Romantisierung des Fin de Siècle“. Die provokant überspitzende Reaktion auf diese Sichtweise formulierte der in Wien geborene und 1935 ins Exil getriebene Kunsthistoriker Ernst Gombrich: Er überlasse die Unterscheidung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Persönlichkeiten gerne der Gestapo und schlussfolgerte, „dass der Begriff der jüdischen Kultur von Hitler und seinen Vor- und Nachläufern erfunden wurde“ . Also versuchen die 30 Beiträge des Bandes in unterschiedlicher Güte eine „ausgeglichene Sichtweise“, auf dass sie weder philosemitisch erst recht nicht antisemitisch vereinnahmt werden können.
Die Verweigerung von Etikettierungen ist dabei nicht neu. Die Schnitzler-Kennerin Bettina Riedmann berichtet in ihrem Beitrag über des Schriftstellers Anstrengungen, sich der Etikettierung als „jüdischer“, aber auch als deutscher oder österreichischer Schriftsteller zu entziehen: „Wer hat zu entscheiden, wohin ich gehöre? Ich allein.“
In Wien aber hieß es zuvörderst. „Ist er ein Jud?“ Steven Beller stellt in seinem Beitrag über „Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit“ dar, dass diese Frage ins Zentrum der Identitätsproblematik zielte. Denn in Wien, so beschreibt Albert Lichtblau in seinem Beitrag über „Antisemitismus 1900-1938“, war spätestens seit dem Ende der 1890er-Jahre der Antisemitismus gesellschaftsmächtig geworden. Die Frage „Ist er ein Jud?“ war also für weite Kreise der Wiener die entscheidende. Erst danach kam die Leistung – dass diese Wahrnehmung sowohl in ausgrenzender als auch in bewundernder Weise geschah, kennzeichnet nur die beiden Seiten einer typisch „österreichischen Komplexität und Vielfältigkeit“ im Wien jener Jahre. Welche kuriosen Folgen diese Komplexität zeitigte, zeigt Hugo Bettauers Roman „Die Stadt ohne Juden“ (1922), der im Zentrum des Beitrags von Murray G. Hall steht. Der ,Gag‘ dieses Romans: weil die Juden Schuld am wirtschaftlichen Ruin des Landes haben, werden sie per Gesetz alle ausgewiesen. Doch nun, da alle weg sind, ,verdorft‘ Wien. Missmut macht sich breit. Die Juden sollen zurück kommen. Wien wird wieder Wien und der Bürgermeister begrüßt den ersten, „der aus dem Exil nach Wien zurückkehrt“ erleichtert: „Mein lieber Jude!“
Auch Beiträge, wie der Wolfgang Müller-Funks über eine Kontroverse zwischen den Schriftstellern Soma Morgenstern und Joseph Roth über die (ost)jüdische Identität, Hanno Loewys Beitrag über den „irgendwo dazwischen“ sich fühlenden Feuilletonisten der 1920er-Jahre in Wien Béla Balázs, oder Siegfried Mattls Beitrag über Felix Salten, den Autor des „Bambi“, kreisen um die Identitätsproblematik. Aufschlussreich sind Beiträge, die versuchen, die Infrastruktur der jüdischen Gemeinden im Wien der Zwischenkriegszeit zu rekonstruieren. Wo waren welche Synagogen, Bethäuser? Wer war Rabbiner in welcher Gemeinde? Welche jüdischen Kultureinrichtungen gab es? Wie sahen die Programme aus?
Solche Beiträge leisten Grundlagenarbeit. Viele andere Beiträge sind leider für Laien eher wenig ergiebig. Sie beschränken sich auf spezielle Impulse, die günstigenfalls für eine professionelle Weiterbeschäftigung in der Thematik geeignet sind.
Dagegen zielt Julius H. Schoeps Buch „Das Erbe der Mendelssohns“ auf eine breite Leserschaft. Seine „Biographie einer Familie“, wie er sein Buch im Untertitel nennt, ist mit leichter Hand geschrieben. Es liest sich flüssig, zügig erkundet man die Geschichte der Familie seit Moses Mendelssohn sich 1743 aus seiner Geburtsstadt Dessau auf in die preußische Hauptstadt Berlin gemacht hatte. Mit der Legende, wie er durch kluge und bescheidene Antworten den Torwächter, der entschied, ob die reisende Juden die Stadt betreten durften, beeindruckte, beginnt die Geschichte der Mendelssohns. „Heute“, so zitiert Schoeps eine angebliche Bemerkung in den Aufzeichnungen der Wache, „passierten das Rosenthaler Tor sechs Ochsen, sieben Schweine, ein Jude“ .
So pointiert lassen sich freilich die Anekdoten, Legenden, Geschichten nicht immer präsentieren. Weite Teile des Buchs sind eher eine bieder-brave Geschichtsnacherzählung. Dem berühmten Moses Mendelssohn folgten Kinder und Kindeskinder, die im Berliner Kultur- und Wirtschaftsleben alsbald wichtige Personen wurden. Mit ihnen verband sich auch die Hoffnung einer endlich geglückten Emanzipation der Juden, die auch eine Anerkennung durch die ,Bürger‘ Preußens bedingte. Am Beispiel des anerkannten und ,berühmten‘ Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy, Enkel des Moses, zeigt sich indes, dass es soweit längst noch nicht war. Immer wieder begegneten ihm antisemitische Vorurteile und Haltungen. Und dies, obwohl Teile der Familie früh bereits zum Christentum konvertierten. Als sich im Kaiserreich der Aufstieg der Familie fortsetzte, schien die Frage nach den jüdischen Ursprüngen der Familie erledigt zu sein. Es waren jetzt vor allem die Bankgeschäfte, die die Mendelssohns zu Wohlstand und Ansehen kommen ließen. Die Nazis beendeten alles. Das Bankhaus Mendelssohn & Co. wurde unter dezenter Mithilfe von Hermann J. Abs ‘arisiert’ und der Deutschen Bank zugeschlagen. Etliche Nachkommen Moses Mendelssohns dienten in der deutschen Wehrmacht. Tröstlich immerhin zu wissen, dass die meisten der jüdischen Familienmitglieder den Nazihäschern entkamen.
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