Die Anomalie der Anomalie
Harald Neumeyers erhellende Untersuchung über den Suizid in Wissenschaft und Literatur im 18. Jahrhundert
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBekanntlich fühlen sich freundliche gesinnte Mitmenschen noch immer angehalten, sich ungebeten in die ureigensten Angelegenheiten anderer einzumischen, selbst wenn es um Leben und Tod geht. So werden ‚rechtzeitig‘ aufgefundene SuizidantInnen allerbesten Gewissens ins Leben zurückgezwungen, mag der neben ihnen liegende Abschiedsbrief auch noch so eindeutig sein. Mehr noch, würde diese ‚Hilfeleistung‘ unterlassen, läge ein Straftatbestand vor. Es gab sogar Zeiten, da hatten sich selbst die verhinderten Selbst‚mörder‘Innen strafbar gemacht. Und war der Suizid geglückt, verweigerte ihnen die Kirche ein christliches Begräbnis. Wie für so vieles ist das 18. Jahrhundert als Umbruchzeit der Aufklärung auch für die heute in den ‚westlichen‘ Kulturen verbreitete Haltung zum Suizid prägend. Das heißt allerdings nicht, dass sie seither unverändert geblieben wäre. Ja, es heißt nicht einmal, dass sie während der Aufklärung selbst einheitlich war. Aber dafür gilt sie ja eben als Zeit des Umbruchs.
Den Wandlungen und Entwicklungen, welche die Selbsttötung als Motiv literarischer Texte und als Thema wissenschaftlicher Abhandlungen im 18. Jahrhundert erfuhr, geht Harald Neumeyers in einer erhellenden Untersuchung mit dem Titel „Anomalien, Autonomien und das Unbewusste“ nach. Dabei stellt der Autor Literatur und Wissenschaft nicht etwa zusammenhanglos nebeneinander, sondern betrachtet sie als miteinander vernetzte Diskurse, die sich einer „Reihe verwandter Argumentationsfiguren und Begründungsverfahren“ bedienen. Ein Verhältnis, das der Autor als „dynamische Beziehung“ und einen „nach beiden Richtungen hin offene[n] Austauschprozess“ nachzeichnet. Methodisch rekurriert seine kulturwissenschaftlich angelegte Arbeit auf Michel Foucaults Diskursanalyse und Stephen Greenblatts Ansatz des New Historicism.
Neumeyers „Wissensgeschichte des Selbstmords“ geht es nicht nur um die „Rekonstruktion der gesamtkulturellen Wahrnehmungsparadigmen einer Selbsttötung und deren Umschichtungen“, sondern ebenso wohl darum, die „Geschichte der (Er-)findung des Unbewussten zu skizzieren“, wobei Normen beziehungsweise Normalität einerseits und Anomalien andererseits während des 18. Jahrhunderts in einem „problematische[n] Wechsel-, ja Bedingungsverhältnis“ überhaupt erst als Kategorien hervortraten und sich ausdifferenzierten.
Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für Neumeyers Untersuchung sind der Zustand und der Begriff der Melancholie. Wie der Autor darlegt, überwältigte nach dem damaligen Verständnis zwar noch nicht das Unbewusste, aber doch ein „Unbewusstes“ das „Bewusste“ melancholischer Menschen, was zu einem „Aussetzen des Bewusstseins“ führe. In MelancholikerInnen „koexistieren“ nach dem Wissen der Zeit also zwei Bereiche, ein bewusster und ein unbewusster. Deren Verhältnis ist dadurch geprägt, dass ersterer niemals über den zweiten „definitiv […] verfügen“ kann, während dieser jenen „jederzeit zu überwältigen vermag“. Da die Gründe ihrer Handlungen melancholischen Menschen nicht bewusst seien, machte sich ein Heer von Wissenschaftlern und Philosophen ebenso wie LiteratInnen daran, deren „handlungsleitende Impulse und Begierden zu erkennen und zu benennen“.
Neben dem „primär medizinischen und psychologischen Fall“ des melancholischen Menschen nennt der Autor drei weitere Varianten menschlicher ‚Anomalien‘: „den primär juristischen Fall der Mörder und Kindsmörderinnen“, den „primär medizinischen und pädagogischen Fall der Onanisten“ und eben die SelbstmörderInnen, wobei die vier ‚Fälle‘ keineswegs in dem Sinne trennscharf von einander zu scheiden sind, dass eine Person immer nur unter eine der Kategorien fallen kann. Allerdings nahmen Melancholie und Suizid Neumeyer zufolge eine „Sonderstellung“ ein: Während die Melancholie die „anormale Ursache aller anderen Anomalien sein kann, bildet der Selbstmord die anormale Handlung in der Folge einer Reihe von Anomalien – die Anomalie der Anomalie.“ So neigten die medizinische und die psychologische Ursachenforschung für Suizide zur Zeit der Aufklärung dazu, die „Anomalie des Selbstmords“ ursächlich aus sich gegenseitig beeinflussenden und verstärkenden vorgängigen ‚Anomalien‘ der betreffenden Personen abzuleiten. Daher geriet Neumeyer zufolge die in dieser Argumentation „mit erzählte Kippfigur“, dass auch Normen Anomalien „generieren“ können, nicht ins Blickfeld.
Auf literarischem Gebiet wendet sich der Autor zunächst in kürzeren Abschnitten Daniel Casper von Lohensteins Theaterstück „Cleopatra“ (1661), Johann Christoph Gottscheds „Sterbender Cato“ (1732) und Gotthold Ephraim Lessings Drama „Miss Sara Simpson“ (1755) zu, um an den Stücken darzulegen, wie sich das Verständnis des Suizids und damit seine Darstellung auf – beziehungsweise hinter – der Bühne änderte. Diente Lohenstein die Inszenierung des Suizids noch zu dessen Legitimation als „heroische[r] Handlung“, so verlegte ihn Gottsched als Tat, der stets der „Makel des Grausamen“ anhaftet, hinter die Bühne. Zwar tötet sich Melfonte in Lessings Stück ebenso wie die titelstiftende Figur in dessen Einakter „Philotas“ (1759) oder Ferdinand und Louise in Schillers bürgerlichem Trauerspiel „Kabale und Liebe“ (1784) auf den Brettern, die zwar stets die Welt aber eben nicht immer das Leben bedeuten. Doch ging damit keineswegs eine Re-Legitimierung des Suizids einher. Vielmehr wurden sie alle als „mehr oder weniger pathologische Fälle“ inszeniert, die „von Antrieben […] überwältigt und gesteuert“ werden, „die ihnen zum Teil selbst nicht bewusst sind“.
Doch gab es Neumeyer zufolge zumindest aus Sicht der ZeitgenossInnen wenigstens ein literarisches Werk des 18. Jahrhunderts, das die Selbsttötung seines Helden „vernünftig begründet“ und den Suizidanten als „Heros“ darstellt. Die Rede ist natürlich von Johann Wolfgang Goethes „Leiden des Jungen Werthers“ (1774), der neben Friedrich Schillers „Die Räuber“ (1781) und schließlich Clemens Brentanos „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“ (1817) zu den Werken zählt, denen sich der Autor besonders gründlich widmet. Die verbreitete Ansicht, der „Werther“ habe zu einer „‚Epidemie‘ von Selbstmorden“ geführt, bestreitet Neumeyer allerdings mit den Hinweis, dass sich für die Jahre von 1775 bis 1833 gerade mal vierzehn Suizide nachweisen lassen, „die sich mehr oder weniger deutlich auf den ‚Werther‘ beziehen“. Während Goethe die „Pluralisierung der Motivierungsgeschichten“ des Suizids literarisiert, zeigen Schillers „Räuber“ die „differenten Funktionen“ von dessen Pathologisierung. Brentano lieferte hingegen das Werk, das nicht nur „über die literarischen Gestaltungen der Selbsttötung im 18. Jahrhundert hinaus[geht]“, indem es eine „eindeutige Begründung als auch eine eindeutige Bewertung unmöglich“ macht, sondern literarisierte mit dem Kindsmord durch die Mutter auch eine Form der Fremdtötung. Drei Jahrzehnte nach der „Hochzeit der Kindsmorddebatte“ initiierte seine Novelle eine „Metakommunikation“ mit ihr.
Hinsichtlich der damaligen Wissenschaften interessieren Neumeyer vornehmlich die zeitgenössische Haltungen von Medizin, Pädagogik, Psychologie, Jurisprudenz und „Polizeiwissenschaft“ sowie natürlich die der Philosophie und der Theologie beziehungsweise diejenige von Vertretern des Christentums zum Phänomen der Selbsttötung. Und hier kommt dann auch die Onanie ins Spiel, die für Johann Friedrich Ernst Albrecht im Jahre 1800 sie als „Musterbeispiel eines ‚subtilen Selbstmords‘“ fungierte. Gerne wurden seinerzeit tatsächliche oder vermeintliche Gemeinsamkeiten von Suizid und Onanie hervorgehoben. Als besonders verwerflich wurde Neumeyer zufolge angesehen, dass der „Selbst-Mörder“ ebenso wie der „Selbst-Beflecker“ „autonom und selbstbezogen“ handele. Zudem breche die Onanie, hierin wiederum dem Suizid verwandt, mit der „Norm der Lebenserhaltung“, indem sie „gegen die als Norm definierte eheliche Triebbefriedigung zur Gattungsreproduktion verstößt“. Die „Parallelisierung von Onanie und Selbsttötung“ hatte allerdings nicht erst Albrecht erdacht, sondern ein knappes halbes Jahrhundert zuvor schon der Franzose Samuel-August-David-André Tissot in die Wege geleitet.
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