Auf der Suche nach der verlorenen Ontologie
Gehört Georg Lukács zum alten Eisen? Ein spannungsgeladener Sammelband belegt das für manche vielleicht unerwartete Gegenteil
Von Volker Strebel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseReinhard Mehring schreibt in seiner lange erwarteten Biografie über Carl Schmitt, dass dieser zeitlebens die Wortmeldungen von Georg Lukács (1885-1971) aufmerksam verfolgt habe. Gerde weil niemand Schmitt als Parteigänger der politischen Linken verdächtigen wird, zeigt dieser Hinweis von der öffentlichen Aufmerksamkeit, der sich Lukács immer sicher sein konnte. Umso aufschlussreicher wiegt der vorliegende Band, der die Rezeption der Schriften von Georg Lukács vor dem Hintergrund der sogenannten ‘68er Bewegung nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland beleuchtet.
Lukács hatte wie kaum ein anderer Philosoph die politischen wie denkerischen Stürme des zwanzigsten Jahrhunderts beobachtet und zugleich abgebildet. In jungen Jahren hatte der in Budapest geborene Georg Lukács zunächst die gefühligen Schwankungen irritierter spätromantischer Daseinsverzweiflung zu verarbeiten versucht. Seine Frühwerke „Die Seele und die Formen“ (1911) und „Die Theorie des Romans“ (1816) bieten auch heute noch lesenswerte Einblicke.
Umso überraschender für seine Freunde gestaltete sich seine Konversion zum marxistischen Sozialismus im Jahr 1918. Diesem Bekenntnis, das für Lukács einer erkenntnistheoretischen wie auch handlungsorientierten Weltanschauung gleich kam, sollte er bis zu seinem Lebensende treu bleiben – bei allen parteitaktischen wie auch politstrategischen Wendungen und Kurskorrekturen, denen er sich immer wieder zu unterziehen hatte. Vom bürgerlichen Bankierssohn war Lukács über Nacht zum Politkommissar avanciert, der während der ungarischen Räteregierung von 1919 auch mit der Funktion des Volksbildungskommissars betraut worden war.
Lukács’s Schrift „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (1923) wird neben Karl Korschs Studien „Marxismus und Philosophie“ (1923) den wenigen anspruchsvollen Entwürfen eines „westlichen Marxismus“ zugerechnet. Sie stellen einen souveränen Versuch dar, mit Kategorien des marxistischen Denkens eine Analyse der Gegenwart vorzulegen. Den etablierten Apparaten der Parteibürokratie konnte eine solche Unternehmung nicht passen – Lukács wurde zur Selbstkritik gedrängt. Dass ausgerechnet „Geschichte und Klassenbewußtsein“ in den 1960er-Jahren eine unerwartete Aufmerksamkeit bei kritischen Studenten und Wissenschaftlern erfuhr, überraschte nicht zuletzt Georg Lukács selbst, der sich längst auch von diesem Buch distanziert hatte.
Der Herausgeber Rüdiger Dannemann ist sich bewusst, dass ein Band, der die Wirkung von Georg Lukács auf Akteure wie Theoreme der Neuen Linken untersucht, nicht aus einem Guss bestehen kann. Ihn bewegte die Frage: „Erweist sich im Rückblick die Lukács-Renaissance jener Jahre als Irrweg oder als Wiederentdeckung eines philosophischen Klassikers?“.
Wenn sich Autoren wie Peter Bürger, Jürgen Meier oder György Dalos in mehr oder minder biografisch gehaltenen Skizzen über ihren Zugang zu Georg Lukács äußern, ist eine breitest mögliche Skala der Sichtweisen gewährleistet. In kurzen Studien und Abrissen artikulieren sich verschiedene Einschätzungen unter anderen von Detlev Claussen, Frieder O. Wolf oder Stefan Bollinger zum Komplex „Lukács und die Neue Linke“. Vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Umbrüche der 1960er-Jahre bot es sich an, gerade auf „Geschichte und Klassenbewußtsein“ zurückzugreifen, um sich Klarheit über die Verhältnisse und damit Handhabungen taktischer und strategischer Art zu verschaffen. „Den Kernpunkt“, wie es Heinz Kimmerle ausdrückt, „bildet freilich die Analyse des Phänomens der Verdinglichung“.
So erfrischend die politische und ideologische Vielfalt in dem vorliegenden Sammelband auf den Leser wirkt, so nüchtern fällt zuweilen die Einseitigkeit mancher theoretischer Einschätzung gerade aus der historischen Distanz aus. Wenn zum Beispiel Wolfgang Fritz Haug aus den Schriften von Georg Lukács in den 1960er-Jahren den ideologischen Antrieb herausfilterte, dem „Absurdismus“ der modernen Lebenswelt im Konsumzeitalter zu Leibe zu rücken, erwies sich somit eine produktive Verwertung für die Gegenwart. Prekärer wird es im nächsten Schritt, wenn lebensweltliche Komplexe wie die „Warenwelt“ als „komplementäre Gegenwelten“ des „Faschismus“ und des „Imperialismus“ deklariert werden. Angesichts der vollkommenen Ausblendung des „real existierenden Sozialismus“ bleibt bei derlei Analysen politisch-gesellschaftlicher Wirklichkeit ein fader Beigeschmack. Hier ergänzten sich ganz offensichtlich fehlende Kenntnisse mit uneingestandener Scheu vor bohrenden Fragen.
Ähnliche Unschärfen klingen im Gespräch von Rüdiger Dannemann mit Axel Honneth „Auf Augenhöhe mit Heidegger“ an, wenn Honneth eher hilflos eingesteht, dass er Denkwege ehemaliger Lukács-Schüler wie Ágnes Heller oder Mihály Vajda nicht „richtig einschätzen“ kann: „Die nehme ich aus der Distanz wahr und bin nur ein bißchen irritiert, daß jemand, der aus dem Hause (von) Lukács kommt, heute mit dieser Begeisterung sich den Analysen Heideggers zuwendet“.
Neben Aspekten zur Philosophie, Politik und Soziologie bietet die Rezeption der Schriften von Lukács auch Weiterführungen in der Ästhetik. Nur für Uneingeweihte unerwartet ist der Hinweis von Thomas Metscher auf die Aktualität der literaturwissenschaftlichen Verfahrensweise von Georg Lukács – die sich ausgerechnet bei Marcel Reich-Ranicki wiederfindet: „Dessen Wertungskriterien sind nämlich sehr genau dem Lukács abgeschaut, freilich stellt er sie in einen anderen politisch-ideologischen Kontext“. Es findet sich somit eine sonderbare Dialektik ein, an der Metscher das Denken von Georg Lukács in nuce kenntlich macht: „Wie hätte Lukács es genannt? Triumph des Realismus“.
Lukács lesen lohnt sich! Um Georg Lukács wird nicht herumkommen, wer sich mit den geistigen Strömungen des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigt. Wiederholt hatte der greise Lukács darauf verwiesen, dass sich das originäre marxistische Denken als kritisch-materialistisches Verfahren erst noch entwickeln müsse. Es wird sich erweisen, ob seine Anhänger zurecht davon überzeugt sind, dass gerade die Vielstimmigkeit seines Werks Weiterführendes birgt.
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