Kulturkritiker oder Arzt der Kultur?
Georg Bollenbeck und Lothar Ehrlich haben den Band „Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker“ herausgegeben
Von Peter Münder
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Ein Terror liegt über dem Land: Die Akzeptanz des Ästhetischen“ schrieb Karl-Heinz Bohrer 1998 in seinem Buch „Die Grenzen der Ästhetik“. Bohrer wehrte sich dagegen, ästhetische Kategorien zunehmend für ein breites Spektrum gesellschaftspolitischer Diskussionen und für eine totale „Ästhetisierung der Lebenswelt“ zu bemühen und plädierte daher für eine „Entgrenzung des Ästhetischen“. Außerdem, so Bohrer, würde der inflationäre Einsatz rhetorischer Versatzstücke aus dem Ästhetik-Fundus zu einer nivellierenden, nichtssagenden Selbstreferenz führen. Bohrer versteht diese überbordende „Aktualisierung des Ästhetischen“ als Ablösung von fundierten philosophischen Kategorien. Ihm geht es also auch, ganz im Sinne Adornos und dessen Attacken gegen den hohlen „Jargon der Eigentlichkeit“, um die Entlarvung eines „Frühstücksdirektoren-Deutschs“, das sich zwar gelegentlich Hegel’scher Termini bedient, aber damit nur das Realisieren plump-profaner Ziele anvisiert oder eigene Bildungsdefizite kaschieren will.
Friedrich Schiller (1759-1805) hatte nach der Veröffentlichung seiner Schriften „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1793) und „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795) zwar nicht mit einem „Terror einer Akzeptanz des Ästhetischen“ zu kämpfen. Trotz der einsetzenden Diskussion über seine Thesen wurde Schiller als Theoretiker jedoch oft unterschätzt. Er hatte sich ja auch im Anschluss an die von Immanuel Kant („Kritik der Urteilskraft“) ausgelösten Ästhetik-Diskurse über das Schöne und das „interesselose Wohlgefallen“ mit eigenen Überlegungen über den Schönheitsbegriff zu Wort gemeldet – allerdings waren dies eher unsystematische Überlegungen, die man in kein stringentes Schema einordnen konnte.
Anlässlich seines 200. Todestages diskutierten Germanisten, Philosophen, Medientheoretiker, Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler im Juni 2005 auf einem Weimarer Symposion über den Theoretiker Schiller. Der Band „Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker“ enthält die Beiträge von zwölf Referenten, die einen großen Bogen schlagen vom Universalgeschichtler Schiller über den Einfluss Edmund Burkes bis hin zu Friedrich Nietzsches Schiller-Rezeption – eine ebenso vielfältige wie faszinierende Aufarbeitung dieses facettenreichen Phänomens.
Keine Frage: Die Aktualität des Theoretikers Friedrich Schiller stellt sich wieder neu. Auch im Kontext einer schon von Georg Lukács (in „Geschichte und Klassenkampf“) – im Band leider nicht separat diskutierten – initiierten Diskussion über Schiller als prophetischer Vordenker und möglicher Problemlöser hinsichtlich der Entfremdungs-Thematik. Denn Schillers Verdikt über den homo ludens, der nur da „ganz Mensch ist, wo er spielt“, so Lukács, spanne das „ästhetische Prinzip weit über die Ästhetik hinaus“ und suche in ihm „den Schlüssel zur Lösung der Frage nach dem Sinn des gesellschaftlichen Daseins des Menschen“. Und damit übertreffe Schiller alle früheren Denker, die in naiven Denkformen der Verdinglichung stehen geblieben waren: Bei Schiller, meint Lukács, „tritt die Problematik des gesellschaftlichen Seins des kapitalistischen Menschen mit voller Kraft ins Bewusstsein“. Wenn der Entfremdungs-Theoretiker Lukács also Schiller als Vordenker der Verdinglichungs-Problematik akzeptiert und ausnahmsweise nicht unterschätzt, dann scheint das hier diskutierte Phänomen auch den altbekannten Aspekt eines hermeneutischen Tunnelblicks widerzuspiegeln: Je nach Spezialinteresse wird Schiller einem favorisierten Segment oder Klassifikationsmodell subsumiert.
Resultierte die unter Philosophen traditionell weitverbreitete Unterschätzung daraus, dass Schiller kein geschlossenes theoretisches System anbieten konnte oder wollte? Lag es vielleicht am eher diffusen Verständnis der Begriffe „naiv“ und „sentimentalisch“? Oder war er als Vordenker einer Theorie der ästhetischen Versöhnung unglaubwürdig geworden, nachdem er 1789 in seiner Jenaer Antrittsrede („Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“) ein Herrschaftssystem zu preisen schien, das er noch in seiner Sturm-und Drang-Periode so kategorisch kritisiert und bekämpft hatte? „Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen haben sich – ohne es zu wissen oder zu erzielen – alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt“ behauptete er in seiner Vorlesung. Und er fuhr fort: „Alle denkenden Köpfe verknüpft jetzt ein weltbürgerliches Band, und alles Licht seines Jahrhunderts kann nunmehr den Geist eines neuen Galilei und Erasmus bescheinen“. War diese harmonieselige Feststellung, ein halbes Jahr vor der Französischen Revolution formuliert, als populistische Variante eines nach vorn blickenden „Yes we can!“-Optimismus trotz vorrevolutionärer Turbulenzen zu verstehen?
Schon dieser Versuch, „die Schatulle des Herzogs zu öffnen und die Herzen des akademischen Publikums zu gewinnen“, wie Georg Bollenbeck es in seinem Beitrag „Von der Universalgeschichte zur Kulturkritik“ formuliert, steigerte offenbar nicht gerade Schillers Akzeptanz als Historiker. Wenn Bollenbeck Schiller als Kulturkritiker apostrophiert, dann ist dies Ausdruck einer Wertschätzung, die sich auf Schillers präzise Analyse ästhetisch-philosophischer und gesellschaftspolitischer Kontexte bezieht. Schiller habe sich, so Bollenbeck, vor allem in den Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ als sensibler Pragmatiker mit Bodenhaftung erwiesen. Schließlich bemängele er die Exzesse depravierter Existenzen nicht als weltfremder Idealist und keineswegs aus Ressentiment gegen die Moderne, wohl aber äußere er Kritik „an Pathologieeffekten der Moderne: Die Menschen sind mit sich selbst entfremdet; Gesellschaft und Geschichte treten ihnen gegenüber als fremde Mächte auf“. Nicht als Fluchthelfer „ins Reich des schönen Scheins“ sei Schiller also zu bewerten, sondern als profunder Analytiker kulturkritischer Pathologiebefunde. Wer wollte da widersprechen? Haben wir heute nicht allzu viele Hochfrequenz-Rhetoriker, die sich zwar über mediale „Seichtgebiete“ auslassen, dabei aber nur populistische Stammtisch-Thesen bedienen? Aber mit einem Abstieg in diese profanen anti-ästhetischen Niederungen würde der Rezensent sich auf ein allzu weites Feld begeben und diesen Band mit allzu deprimierenden, toxischen zeitgenössischen Pathologiebefunden infizieren.
Zwar könnte man bei der Lektüre der Beiträge über „Medientheoretische Überlegungen zu Schillers ästhetischer Theorie“ (Holger Dainat), über „Die Freiheit und der Tod. Grenzphänomene idealistischer Theoriebildung beim späten Schiller“ (Wolfgang Riedel) oder von „Der musikalische Dichter. Schillers berühmte Fußnote zwischen Klopstock und Richard Wagner“ (Mark Emanuel Amstätter) mitunter den Eindruck gewinnen, bei einem Rorschach-Test mit einem breiten Spektrum ansprechender Testbilder konfrontiert zu sein, das schon das passende Bildchen für jeden Interessenten parat habe. Doch wen kann es wirklich überraschen, dass der gewiefte Theatermann Schiller, der sich in seiner Vorrede zur „Braut von Messina“ ausgiebig „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“ geäußert hatte, sich ein profundes Konzept eines Musiktheaters zurechtgezimmert hatte? Oder dass Schiller sich intensiv mit dem Erbe des deutschen Idealismus auseinandersetzte? Als Universalhistoriker mit einer Affinität zu Humboldts umfassendem humanistischem Weltbild hatte Schiller eben auch ein sehr weitreichende Erkenntnisinteresse, das für Forscher unterschiedlichster Disziplinen auch heute noch hübsche Nischen zur weiteren Untersuchung hinterlassen hat.
Die vielleicht weitreichendste, aktuellste Studie befasst sich mit Nietzsches Schiller-Rezeption, die zwischen Begeisterung und Verachtung oszillierte. War Nietzsche anfangs noch in seiner Wagner-Verehrung ein absoluter Schiller-Schwärmer, weil ihm dessen Überlegungen zum „Gebrauch des Chors in der Tragödie“ das perfekte theoretische Konzept für Wagners Musiktheater und seine eigene „Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ lieferte, so verwarf er später, nach seinem Bruch mit Wagner, auch Schillers ästhetische Thesen und höhnte sogar über den „Moraltrompeter von Säckingen“. Dennoch zeigte Nietzsche in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ und anderen Schriften trotz aller kritischer Distanz immer noch eine subtil differenzierte Weiterentwicklung des ursprünglichen Schiller’schen Ästhetik-Konzepts, wie Gilbert Merlio in seinem Beitrag zur Schiller-Rezeption bei Nietzsche nachweist. Er spricht folglich von Nietzsches „Distanz der Nähe“ gegenüber Schiller.
Im Internat Schulpforta erlebte Nietzsche im Dezember 1859 geradezu euphorisch die Feierlichkeiten anlässlich Schillers 100. Geburtstag. Er hatte im Sommer bereits „Die Räuber“ gelesen und war so hingerissen, dass er das Adjektiv „übermenschlich“ gebrauchte. Es ist unschwer zu erkennen, dass Nietzsche in Schiller einen Bruder im Geiste sah: War hier nicht ein weiterer unzeitgemäßer Dichter und Denker, ein Geistesaristokrat dabei, sich ebenfalls über den „plebejisch politischen Tageslärm“ hinwegzusetzen, um mit „glühenden hochherzigen Kämpfen“ dafür zu sorgen, dass „der Tag der Edlen endlich komme“ (Nietzsche)? Den Schöpfer des „Zarathustra“ faszinierte an Schiller nicht nur die Idealisierung alles Dionysisch-Hellenistischen, er fühlte sich auch in seiner „Aufwertung des Außermoralischen“ (Merlio) bestätigt, die ja bereits in „Die Räuber“ an den außerhalb der bürgerlichen Norm agierenden Figuren demonstriert wurde. Merlios faszinierender Beitrag geht auch auf Schillers Spiel-Thesen ein; er verweist auf den Bezug zu Heraklit und das „dionysische Phänomen“: Heraklit zeige das Spiel des Künstlers und des Kindes – „so spielt das ewig lebende Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld- und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich“. (Nietzsche)
Frappierend sind laut Merlio die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zwischen Schillers und Nietzsches ästhetischem Humanismus. Vor allem die Analyse des Schiller-Aufsatzes „Über das Erhabene“ (1801) zeige, so Merlio, die Aktualität Schillers als Theoretiker der Moderne. Unter Bezugnahme auf Rüdiger Safranksis große Schiller- Studie (Schiller oder die Erfindung des deutschen Idealismus, Wien 2004) bezeichnet auch Merlio den schwäbischen Dichter und Denker als „Arzt der Kultur“. Safranski hatte konstatiert: „Es geht um die Lokalisierung des Ästhetischen im gesellschaftlichen Zusammenhang und damit auch um die Bedingungen und Möglichkeiten der Lebenskunst in der Moderne. Ein Jahrhundert vor Nietzsche betätigt sich Schiller als Arzt der Kultur“. Das ebenso frappierende wie überzeugende Fazit Merlios lautet: Schiller kann nicht mehr als Vorläufer Nietzsches, sondern Nietzsche muss als Vollender Schillers bezeichnet werden.
Safranskis Hinweis auf Schillers umfassendes ästhetisches Lebenskunst-Modell scheint der von Bohrer überbordenden, alle Lebensbereiche durchdringenden „Akzeptanz des Ästhetischen“ zu ähneln. Doch was Bohrer als „Terror“ der Ästhetik-Dominanz empfindet, hatte Schiller in seiner Vision vom „Erhabenen“ als Vademecum für den neuen Menschen und dessen Autonomie gefordert. Wer will nun eine Debatte anstoßen darüber, ob Bohrers Terminologie in „naiver“ oder „sentimentalischer“ Manier appliziert wurde?
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