Das Menschenbild des Königsberger Aufklärers
Reinhard Brandts "Kommentar zu Kants Anthropologie"
Von Redaktion literaturkritik.de
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVon 1772/73 bis 1795/96, also nahezu während seiner gesamten akademischen Lehrtätigkeit als Ordinarius für Logik und Metaphysik, hielt Immanuel Kant jeweils im Wintersemester Vorlesungen über Anthropologie. Obwohl ihr Gegenstand außerhalb seines eigentlichen philosophischen Systems zu verorten ist und die zentralen Begriffe der Transzendentalphilosophie fehlen, bestehen doch zahlreiche Verbindungen der Anthropologie zu den Kritiken.
Knapp zwei Jahre nach Beendigung seiner Lehrtätigkeit publiziert Kant 1798 die "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", die auf den Vorlesungen basiert. Zwar wurde das Werk in einer höheren Auflage als alle bisherigen Schriften gedruckt und erreichte binnen kürzester Zeit eine zweite Auflage, doch hat es nach seinem Erscheinen keinerlei Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Befürwortern provoziert. Dieses Schweigen reicht bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein. Geradezu symptomatisch ist, dass ein in den Kant-Studien 1931 ausgeschriebener Preis für eine Untersuchung zu Kants Anthropologie mangels eingehender Bewerbungen nicht vergeben werden konnte. Es gibt bis heute keine namhafte Monographie zu Kants Anthropologie.
Reinhard Brandt, Professor für Philosophiegeschichte in Marburg und Leiter des dort ansässigen Kant-Archivs, hat nun einen längst überfälligen Kommentar vorgelegt. Das Material, dessen Grundstock in Zusammenhang einer zehnjährigen Arbeit an der Edition der Vorlesungsnachschriften (Bd. XXV der Akademie-Ausgabe) gesammelt wurde, war Anlass und Ausgangspunkt der ebenso Publikation.
Nun ist Kants Anthropologie keine philosophische Schrift und gibt sich eher populär. Daher, so Brandt, stellt sie sich auf den ersten Blick wesentlich einfacher und verständlicher dar als seine Hauptwerke. Dennoch sei das Buch von einer "esoterischen Dichte", die eines entschlüsselnden Kommentars bedürfe. In einer ausführlichen Einleitung stellt Brandt die Schrift als ganze vor. Zunächst führt er in Idee, Entstehung und Aufbau der Anthropologie Kants ein und weist auf erste interpretatorische Tücken und Schwierigkeiten hin, die sich bereits daraus ergeben, dass die "häufig missliche Form der Einteilungen durch Kant selbst und die irreführende Druckweise entscheidender Passagen und Überschriften" den Lesenden die Orientierung sehr erschweren. Es bedarf daher einer besonderen Aufmerksamkeit, um Zusammenhänge, "Scharniere und Übergänge" der Themen zu beachten und zu erkennen. Sodann erörtert Brandt den Wissenschaftscharakter der pragmatischen Anthropologie und bestimmt Aufgaben und Grenzen des vorliegenden Kommentars, der auf der Edition der Anthropologie in der Akademie-Ausgabe von 1917 (nicht 1907) basiert. Kant-Lesende, denen die dortige Frakturschrift Schwierigkeiten bereitet, können auf die von Brandt im Rahmen der Philosophischen Bibliothek des Meiner Verlags herausgegebene Anthropologie-Edition zurückgreifen. Sie bietet am Rand die Paginierung der Akademie-Ausgabe, so dass eine rasche und problemlose Orientierung möglich ist.
Brandts Kommentar ist detailliert, klar, übersichtlich gestaltet. Er richtet das Hauptaugenmerk auf die Schrift selbst, die Brandt als "Dokument der Selbstverständigung des Menschen am Ende des 18. Jahrhunderts" begreift, sowie auf ihre gedanklichen Voraussetzungen. Dabei werden werkimmanente Verknüpfungen herausgearbeitet und akribisch das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem erhaltenen Manuskript Kants (Handschrift H) und den beiden zu seinen Lebzeiten erschienen Auflagen des Buches geklärt. Zudem werden intertextuelle Bezüge zu anderen Kantischen Publikationen, zu seinen Vorlesungen und den nachgelassenen Reflexionen ebenso aufgezeigt und erörtert, wie zu den literarischen Quellen und der zeitgenössischen Literatur. Im Zentrum des sich als "kritisch" verstehenden Kommentars stehen allerdings Erläuterungen zu Passagen, die sich weder den Zeitgenossen Kants noch heutigen Lesenenden ohne weiteres erschließen. Darüber hinaus finden sich zahlreiche theoretische Einlassungen zu Ausführungen Kants, die einen philosophischen Wahrheits- und Geltungsanspruch erheben und nach Prüfung der angeführten Gründe verlangen. Die Lesenden sind angehalten, die Behauptungen (Kants und Brandts) nicht nur zu verstehen, sondern kritisch zu beurteilen.
Ferner werden nicht nur die wichtigsten Bezugnahmen namhafter nachkantischer Philosophen und Philosophinnen kritisch gewürdigt - neben ausgewiesenen Kantforscher, auch Autoren wie Theodor W. Adorno, Michel Foucault und Jacques Derrida, um nur drei der bekanntesten zu nennen -, sondern ebenso Untersuchungen historischer Anthropologen und die in letzter Zeit zahlreicher werdenden Stellungnahmen von feministischer Seite. Deren Kritik sei durchaus berechtigt, glaubt Brandt. "Kant", so führt er aus, "spricht der Frau eine eigenständige Vernunft ab [...], sie ist weder zur Wissenschaft in der Erkenntnis, zum Gefühl des Erhabenen in der Ästhetik oder zur Charakterbildung in der Ethik befähigt, noch kann sie aktive Staatsbürgerin werden oder auch nur selbständig Geschäftsverträge abschließen." Auf die Fragen, wie in diesem Fall überhaupt ein Ehevertrag zwischen Mann und Frau, so wie Kant ihn vorsieht, möglich sei, oder wie die Frau eines eigenständigen Verbrechens fähig sein könne, wie dem von Kant genannten Kindsmord, geht der Kommentar ebenso ein wie auf die durchgängige Ausklammerung der Frau aus dem Bereich der eigentlichen Bestimmung des Menschen und die oft "grotesken Verzerrungen", zu denen Kants misogyne Haltung häufig geführt hat. Das alles sei ebenso "unter aller Kritik und Aufklärung" (ein Wort Kants, das Brandt hier gegen ihn selbst wendet) wie Kants Antisemitismus, dem Mendelssohn vergeblich versuchte entgegen zu wirken, und der sich unter anderem darin äußert, dass "die Juden für Kant Betrüger sind".
Ein ebenso umfang- wie hilfreiches Literaturverzeichnis beschließt den Band. Angemerkt sei noch, dass die Druckfassung des Kommentars keine Indices aufweist. Doch werden die Lesenden hierfür dadurch entschädigt, dass der Text über die Internet-Homepage des Kant-Archivs mit den üblichen Möglichkeiten der Wortrecherche abrufbar ist (http://www.uni-marburg.de/kant).
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