Germanistische Neupositionierungen

Ein von Helmut Schmitz herausgegebener Sammelband widmet sich der transkulturellen Literatur

Von Kirsten PrinzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kirsten Prinz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Von der nationalen zur internationalen Literatur“ – bereits der Titel des Tagungsbandes ist Programm. War es bis Mitte der 1990er-Jahre hauptsächlich die interkulturelle Germanistik, die den nationalen Bezugsrahmen durchbrach und die Bedeutung von Migration für Konstruktionen von Kultur thematisierte, so haben sich Methoden und Fragestellungen seitdem vervielfacht: Unter dem Einfluss der postcolonial studies wurden vormals primär in der deutschen Tradition der Hermeneutik stehende Vorstellungen eines Gesprächs zwischen zwei Kulturen hinterfragt und stattdessen hybride Kulturauffassungen gerade unter globalisierten Bedingungen präferiert. Interkulturelle Germanistik, postcolonial studies, aber auch traditionelle literaturhistorische Zugangsweisen stehen derzeit in einem eher konkurrierenden Verhältnis. Um so größer ist das Verdienst des Bandes, diese Heterogenität wiederzugeben, werden doch auf diese Weise aktuelle Positionsbestimmungen und Debatten um das Selbstverständnis des Fachs adäquat aufgezeigt.

Entsprechend formuliert auch der Herausgeber Helmut Schmitz in seiner Einleitung das Ziel, den Band „so heterogen als möglich“ zu konzipieren. Für eine mögliche literarische Kategorisierung präferiert Schmitz jedoch Karl Esselborns Bezeichnung als „deutschsprachige Minderheitenliteratur“. Ganz davon abgesehen, dass auch diese Bezeichnung wieder einen Sonder- und Minderheitenstatus fortschreibt, wäre eine Einführung in aktuelle Verwendungen von „transkulturell“ sicherlich hilfreicher und informativer gewesen, zumal diese Bezeichnung im Untertitel Verwendung findet. Interessant jedoch ist die Beobachtung, dass bei den derzeitigen Debatten der deutsch-türkischen Literatur eine paradigmatische Funktion zukommt. Diese vom Herausgeber skeptisch gesehene Tendenz, Autoren unter einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit zu subsumieren, findet sich jedoch auch in der Struktur des Bandes wieder, der letztlich ebenfalls die Herkunft der behandelten Autoren zugrunde liegt.

Die 18 Beiträge teilen sich auf in einen systematischen Teil zu historischen und begrifflichen Aspekten und einer thematischen Schwerpunksetzung zu den Bereichen „deutsch-türkische Literatur und Film“, „Ost- und Südosteuropa“ sowie „deutsch-jüdische Literatur im europäischen Raum“.

Eine in den aktuellen Debatten bislang vernachlässigte Position nimmt der erste Beitrag von Jürgen Joachimsthaler ein, wenn er auf eine historische Tiefendimension interkultureller Literatur hinweist. Den Ausgangpunkt des Beitrages bilden wechselseitige Austauschprozesse zwischen der deutschen und anderen Kulturen. Konkret aufgezeigt wird dieses an Beispielen aus den litauischen, polnischen und sorbischen Sprachgebieten.

Das zweite Kapitel „Begriffliches“ zeichnet sich durch unterschiedliche Themenzusammenhänge aus. Hier nimmt Karl Esselborn zunächst eine kritische Standortbestimmung inter- und transkultureller Germanistik vor. Ausgeprochen erhellend ist der Beitrag von Volker C. Dörr zu „‚Third Space‘ vs. Diaspora“ der sich mit einer Begriffsklärung kritisch in die gegenwärtigen Debatten zu postcolonial studies und möglichen germanistischen Bezügen einschaltet. Interessant ist dabei der Gedanke, dass Konzepte von Hybridität entgegen ihrer Intention zu (Re-)Essentialisierungen führen können. So kann Hybridität, die als ein ‚neues Drittes‘ verstanden wird, eben doch die Vorstellung eines essentiellen Ersten und Zweiten begünstigen. Der dritte Beitrag von Alexandra Lübke geht auf „Transnationale deutschsprachige Literaturen als historiographisches Erzählen“ ein. Hier entwirft sie das Modell der „Erinnerungstopographien“, das sich über Migration als zentrales Moment von Geschichtsdeutung konstituiert.

Das dritte Kapitel zu „deutsch-türkischer Literatur und Film“ geht von neuen transkulturellen Entwicklungen in der Literatur seit Ende der 1980er-Jahre aus. So betont auch Sandra Vlasta in ihrem Beitrag zur „Ausbildung von Identitäten in Texten von Imran Ayata, Yadé Kara und Feridun Zaimoglu“, dass sich die neue Autorengeneration durch eine Abkehr vom Gastarbeiterklischee und eines ‚Zwischen den Kulturen‘ auszeichnet. Dies zeige sich auch an den Protagonisten, die ein eigenes Selbstverständnis ihrer Identität entwickeln und mit Vorurteilen spielen. Anschlussfähig an dieses These zeigt sich der Beitrag von Maha El Hissy zum transnationalen Grenzverkehr in den Filmen Fatih Akins. Auch hier wird aufgezeigt, wie sich die Figuren nicht eindeutigen Zuschreibungen fügen, sondern sich in einer permanenten Überschreitung gesetzter Grenzen befinden.

Auf ein literaturwissenschaftlich bislang vernachlässigtes Genre macht Karin E. Yesilada in ihrem Beitrag „Nette Türkinnen von nebenan“ zu „Chik-Lit alla turca“ aufmerksam, und meint damit Autorinnen wie Hatice Akyün. Dieser Beitrag nimmt eine breite gesellschaftliche Kontextualisierung vor und zeigt unter anderem, dass sich dieses dem „Plauderton“ bedienende Genre auch deshalb einer regen Nachfrage erfreut, weil es orientalistische Klischees bedient. Gleichzeitig erweist sich diese Literatur jedoch auch als ein Gegendiskurs zu Vorstellungen, die die ‚türkische Frau’ auf ein Opferrolle festlegen. Erweitert wieder die Perspektive des Beitrags zudem durch Bezüge zu türkischen Autorinnen wie Elif Shafak und Asli Erdogan, die einen Autorinnentypus verkörpern, der sich deutlich von „Chick-Lit“-Autorinnen abhebt.

Ebenfalls einer bislang vernachlässigten Perspektive widmet sich der Beitrag von Margaret Littler zur islamischen Kultur im Werken von Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu. Sie zeigt in den Texten Özdamars sufistische Traditionen und Verbindungen von Religion und Erotik auf. Zaimoğlus Text „Gottes Krieger“ hingegen beleuchte innerreligiöse Konflikte und Wandlungsfähigkeiten der Figuren. Beide Schreibweisen entwickeln mit ihrer Fantasiearbeit alternative Entwürfe zur Wahrnehmung des Islam und zu Debatten um eine ‚Parallelgesellschaft‘. Jim Jordan wiederum setzt sich in seinem Beitrag „Orientalismus umgepolt?“ für eine differenzierte Betrachtung der Funktion und Bedeutung exotisierender Darstellungsweisen ein. Zwar könne Orientalismus im Sinne Edward Saids eine Kontrollfunktion ausüben. Das Exotische könne jedoch auch vom „Exoten“ selbst artikuliert und für eine bewusste Lenkung der Leser eingesetzt werden.

Im Kapitel zu Ost- und Südosteuropa gerät Österreich als Ort der Migration verstärkt in den Blick. Sehr aufschlussreich ist hier der der Beitrag von Ernst Grabovszki, der Österreich als literarischen Erfahrungsraum zugewanderter Autoren untersucht. So bezieht er sich im Rahmen einer gesellschaftlichen Kontextualisierung der untersuchten Texte auch auf die Darstellung des Nationalsozialismus in Österreich aus migrantischer Perspektive. Die Darstellung des Balkans untersucht Boris Previsic in seinem Beitrag „Poetik der Marginalität“. Er stellt fest, dass derzeit das Schreiben über Ex-Jugoslawien präsenter sei als das Schreiben von Immigrierten. Diese ‚Second-Hand-Situation‘ lasse den Balkan zu einer Projektionsfläche werden. Diese unterschiedlichen Formen von Marginalisierung und Exotisierung zeigt er an Texten von Peter Handke, W.G. Sebald, Juli Zeh und Norbert Gstrein.

Hier wie in anderen Beiträgen zeigt sich die Wichtigkeit von Raummetaphern für die Analyse von transkultureller Literatur und kulturellen Konzepten. So untersucht Aigi Heero die Bedeutung von Orten in der deutschsprachigen transkulturellen Literatur unter anderem von Autoren wie Wladimir Kaminer, Aglaja Veteranyi und Vladimir Vertlib, wobei sie zwischen Sehnsuchts- und Alltagsorten unterscheidet. Grenzüberschreitende Bewegungen analysiert Michaela Haberkorn. Im Zentrum stehen hierbei „Konzepte nomadischer Identität in den Romanen von Libuse Monikova und Ilija Trojanow“. Gemeinsam sei beiden Autoren, dass ihre Figuren Dichotomien wie Ost und West durchqueren und Identitäten im Spannungsfeld von Stereotypisierungen und deren Subversion, Selbst- und Fremdbild konstituieren.

Auch Christoph Meurer verbindet in seinem Beitrag zu inter- und transkulturellen Russlandbildern bei Wladimir Kaminer Raumdarstellung und kulturelle Konstruktionen. Die Diskussion um die Vorraussetzung eines „Third Space“ bezieht er konkret auf die Texte von Kaminer. Dabei zeigt sich, dass bereits Russland bei Kaminer als heterogener Raum konstruiert ist und Hybridität nicht erst in einem ‚Dritten‘ entsteht. Etablierte Vorstellungen werden auch in dem Beitrag von Terry Albrecht zu Bildern interkultureller Erfahrungen in den Texten von Terézia Mora und Yoko Tawada hinterfragt. Fremdheitserfahrung und Bedrohlichkeit begegnet in den Text Moras häufig gerade an Orten der Zuflucht. Bei Tawada hingegen korrespondiere Eigenes mit Fremden, indem Elemente der deutschen und der japanischen Kultur unter anderem in Sprachbildern, Rollen- und Perspektivwechseln produktiv verbunden werden.

Das letzte Großkapitel umfasst drei Beiträge zur deutsch-jüdischen Literatur im europäischen Raum. Eine historische Perspektive nimmt hierbei Heinz-Peter Preußer ein, wenn er das Deutungspotential mythischer Figuren wie Shylok, Nathan und Ahasver im Zusammenhang mit europäischen Identitätsbildungsprozessen untersucht, wobei letztere im Vergleich zur historischen Analyse der Figuren eher vernachlässigt wird. Der Beitrag von Hans-Joachim Hahn setzt ein Essay von Diana Pintos mit Vladimir Vertlibs Romanen miteinander in Bezug. Er verdeutlicht somit aktuelle Selbstreflexionen jüdischer Diaspora und deren Bedeutung für ein europäisches Selbstverständnis. Die Texte beider Autoren können somit als Fluchtpunkte einer Deutung Europas wahrgenommen werden. So kann Pintos programmatischer Essay auch als Plädoyer für die Fortsetzung jüdischen Lebens in Europa gelesen werden: Jüdische Erneuerung wird hier als wesentlicher Faktor eines europäischen Einigungsprozesses gesehen. In den Texten Vertlibs hingegen erscheint ein skeptischeres Bild jüdischer Diaspora, das eine Identifikation mit einem festen Ort ausschließt. Der Beitrag von Katrin Molnár wiederum gibt ein sehr nuanciertes Bild von Heimatkonstruktionen bei Jakob Hessing, Chaim Noll, Kaminer und Vertlib. Israel als Heimat in den Texten von Hessing und Noll wird hier mit der Migrationsverarbeitung bei Vertlib und den Berlindarstellungen Kaminers kontrastiert.

Die in dem Band versammelten Beiträge geben einen sehr guten Überblick über die Heterogenität aktueller germanistische Positionierungen in dem Bereich transkultureller Literatur. Auf welche Herausforderung man derzeit bei der Konzeption eines solchen Bandes stößt, zeigt bereits die Kapitelstruktur, die einerseits einer vom Herausgeber selbst kritisierten Gruppenzuordnung folgt (so die Kategorie „deutsch-türkisch“) und sich andererseits an etablierten Kategorien wie „deutsch-jüdisch“ orientiert. Die einzelnen Beiträge lassen sich jedoch häufig schon allein aufgrund der Textzusammenstellung nicht unter einer solchen Systematik subsumieren. Dieser Widerspruch ist jedoch auch wiederum symptomatisch für die gegenwärtige germanistische Öffnungen und Neupositionierungen, die nicht länger auf der Vorstellung einer Nationalphilologie basiert oder diese zumindest stark relativiert: Begriffsklärungen und auch Übertragungsmöglichkeiten der postcolonial studies auf deutschsprachige Literaturen werden derzeit hauptsächlich über konkrete Textanalysen entwickelt. Eine grundsätzliche Verständigung über Begriffe, was beispielsweise Inter- und Transkulturalität unterscheidet, bleibt somit offen, aber auch dynamisch. Daran zeigt sich jedoch auch, wie stark literarische Texte germanistische Debatten beeinflussen. Grundsätzlich lässt sich in den versammelten Beiträgen eine Zusammenführung von Begriffen erkennen, beispielsweise wenn Christoph Meurer nach transkulturellen Elementen innerhalb interkultureller Identitätskonstruktionen fragt oder die Möglichkeit eines offenen, dynamischen Konzepts von Nation in Betracht zieht. Damit erweist sicht der Band in vielfacher Hinsicht als hilfreicher Bezugspunkt für eine germanistische Neupositionierung unter den Bedingungen von Transkulturalität und Globalisierung.

Titelbild

Helmut Schmitz (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2009.
362 Seiten, 72,00 EUR.
ISBN-13: 9789042025820

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