Die größte Idee der Zeit

Hedwig Dohms „Briefe aus dem Krähwinkel“ eröffnen der Forschung neue Perspektiven

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahre 1880 stand die Feministin Hedwig Dohm in ihrer Lebensmitte. Das heißt, sie schritt auf ihr vierzigstes Jahr zu und hatte noch ebenso viele vor sich. Doch schon damals klagte sie in einem Brief an die um einige Jahre ältere Schriftstellerin Amelie Bölte, in Sachen Frauenemanzipation sei sie „längst resigniert“ und beschäftige sich nur noch wenig damit. Dohms Befürchtung, ihre „Feder“ sei „nicht scharf genug, als daß ich mir irgendeinen praktischen Nutzen davon versprechen könnte“, einen Strauß mit den „Tagesschriftsteller[n], die sich der Frauenwelt gegenüber so gehässig zeigen“, auszufechten, hatte sich damals selbst allerdings schon längst als völlig haltlos erwiesen. Denn tatsächlich hatte sie bereits etliche brillante Polemiken etwa gegen den „Jesuitismus im Hausstande“ oder über die Gedanken, die sich Pastoren damals über so Frauen machten, verfasst. Auch hatte sie ebenso scharfsinnig wie ironisch für das Frauenstimmrecht sowie über „Der Frauen Natur und Recht“ geschrieben. Außerdem war sie als Verfasserin mehrer Lustspiele hervorgetreten. Dennoch: Nach dem resignierten Brief hat Dohm tatsächlich ein ganzes Jahrzehnt darauf verzichtet, größere Publikationen vorzulegen.

Erst zu Beginn der 1890er-Jahre griff sie wieder vermehrt zur „Feder“, und es erwies sich schnell, dass ihre Bölte gegenüber geäußerte Befürchtung, diese sei „nicht scharf genug“, noch immer genauso wenig begründet war wie zehn Jahre zuvor. Denn sie schuf nun nicht nur zahlreiche Novellen und ihre große Roman-Trilogie „Sibilla Dalmar“, „Schicksale einer Seele“ und „Christa Ruhland“, sondern legte auch eine vor scharfzüngigem Witz sprühende Publikation gegen „Die Antifeministen“ vor. Diese hatte sie allerdings zumindest teilweise schon lange vorher geschrieben.

Dass wir überhaupt von Dohms Brief an Amelie Bölte und von ihren Bedenken wissen, verdanken wir Nikola Müller und Isabel Rohner, die jahrelang nach Briefen und anderen handschriftlichen Zeugnissen Dohms forschten und dabei etliche Archive und Nachlässe durchforsteten. Denn es gibt weder einen handschriftlichen Nachlass Dohms, noch gar ein Hedwig-Dohm-Archiv. „Es sieht so aus, als hätten die Zeitgenossen und Zeitgenossinnen mit der Einführung des Frauenstimmrechts in Dohms Todesjahr ihre Schriften als erledigt betrachtet und gleich mitbeerdigt“, klagen die Herausgeberinnen. Man kann sich also leicht ausmalen. welcher Recherchearbeit es bedurfte, diesen Brieffundus ausfindig zu machen. Dohm selbst allerdings wird von der Mainstreamforschung immer noch so gering geschätzt wie eh und je, so wurden Anträge der Herausgeberinnen auf finanzielle Förderung der „Edition Hedwig Dohm“ von der DFG und anderen Forschungsinstitutionen abgelehnt. Umso mehr ist Marion Oberschelp, die Frauenbeauftragte der Universität Gießen, dafür zu rühmen, dass sie für die Bezuschussung notwendiger Forschungsreisen der Herausgeberinnen sorgte.

Nun haben die beiden Dohm-Forscherinnen den Ertrag ihrer Mühen, nicht weniger als 100 bislang unbekannte Schreiben Dohms, zusammen mit einigen handschriftlich überlieferten Gedichten, Aphorismen, Albumblätter und den wenigen bereits bekannten Briefen als vierten Band der von ihnen herausgegebenen „Edition Hedwig Dohm“ veröffentlicht. Zwar dürften die Zahl der von Dohm geschriebenen Briefe diejenige der aufgefunden und hier publizierten ohne weiteres um ein zehnfaches übersteigen. Dennoch sehen Müller und Rohner in dem Band zurecht „ein erstes Herzstück der Edition“. Denn es handelt sich um eine besonders forschungsrelevante Publikation. War doch bislang über Dohms „soziale Netzwerke, ihre Kontakte zu anderen Publizistinnen und Publizisten, zu Herausgeberinnen und Herausgebern“ kaum etwas bekannt. „[V]on ihrem Selbstverständnis als Autorin ganz zu schweigen“. Dies hatte fatale Folgen. Denn „[i]n Ermanglung persönlicher Dokumente wurden literarische Werke zu ‚autobiographischem‘ Material erklärt, aus dem dann hemmungslos Dohms Biographie zusammenfantasiert wurde“, wie die Herausgeberinnen in ihren den vorliegenden Band einleitenden „Einblicken in das Netzwerk Hedwig Dohms“ monieren. Ein Befund, den sie unlängst in ihrer Dissertation „In litteris veritas“ überzeugend belegt hat. Die nun vorliegenden Briefe „öffnen die Tür zu ihrer [Dohms] Persönlichkeit zumindest einen Spalt“, wie Müller und Rohner meint und der vorliegende Band auch zeigt. So lassen sie etwa „mehr und mehr das Bild einer geschäftstüchtigen Vermarkterin ihrer Werke [entstehen], die viel Zeit damit verbringt, ihre Zeitungsartikel in ausgewählten Medien zu platzieren oder Artikelanfragen von Redakteuren zu beantworten bzw. ihre Stücke zur Aufführung zu bringen.“

Der erste erhaltene Brief, er datiert aus dem Jahre 1859 und richtet sich an die Literatin Ludmilla Assing, zeigt, dass die damals noch nicht 30-Jährige bereits unter Schriftstellern und Schriftstellerinnen verkehrte, zu denen nicht nur die Adressatin sondern etwa auch Fanny Lewald und Julius Frese zählten. Kommt dieser erste Brief noch recht gespreizt daher, so schlägt der nächste erhaltene Brief schon einen ganz anderen Ton an. Er ist allerdings auch achtzehn Jahre jünger – und somit die Verfasserin um ebenso viele Jahre älter. Aufgrund der großen Lücke lässt sich die stilistische Entwicklung der Briefschreiberin nicht im einzelnen nachvollziehen. Jedenfalls schreibt sie spätere Briefe insgesamt sehr viel schlichter und somit lesbarer als diesen ersten aus dem Jahre 1859, ohne dabei allerdings auf einen individuellen den jeweiligen BriefpartnerInnen und den momentanen Anlässen und Stimmungen angemessenen Tonfall zu verzichten. So räumt sie etwa in einem der letzten Schreiben warmherzig Missverständnisse aus, die ein früherer Brief bei einer offenbar sehr viel jüngeren Pazifistin auslöste.

Zu den KorrespondentInnen Dohms zählten zeit ihres Lebens manch bekannte Namen, unter ihnen die Sozialisten Lassalle und Kautsky, der anarchophile Autor John Henry Mackay, der expressionistische Lyriker Alfred Wolfenstein, der Nobelpreisträger Paul Heyse und der Sprachphilosoph Fritz Mauthner, dem gegenüber sie Emil Zola als „keuche[n] Schriftsteller“ verteidigt, der „den geschlechtlichen Beziehungen nur genau den Raum [gibt], den sie im wirklichen Leben einnehmen“. An erster Stelle allerdings ist ein anderer zu nennen: Maximilian Harden, der Herausgeber der Zeitschrift „Die Zukunft“. Mit ihm entwickelte sie trotz aller Differenzen in der Frauenfrage, nicht nur einen langjährigen Briefwechsel, sondern sogar eine Art Freundschaft. Die Briefe an ihn bilden das Kernstück der vorliegenden Ausgabe. Doch natürlich sind unter ihren BriefpartnerInnen auch zahlreiche Feministinnen und Schriftstellerinnen zu finden. Zu ersteren zählen Marie Baum, Rosika Schwimmer und Anna Pappritz, zu letzteren Gabriele Reuter, die Hedwig Dohm auch schon mal um eine Rezension ihres neuesten Romans bat. Ein Gefallen, den ihr diese gerne erwies.

In einem gewissen, länger andauernden Konkurrenzverhältnis stand sie mit Frieda von Bülow. Denn die mit Lou Andreas-Salomé befreundete und zeitweise mit dem fürchterlichen Afrikakolonist Carl Peters liierte Feministin und Schriftstellerin zeigte ähnliche philosophische und literarische Interessen wie Dohm – und sie schrieb ebenfalls für „Die Zukunft“, so dass Dohm wiederholt fürchtete, Themen und Bücher, zu denen sie dort publizieren wollte, seien bereits an Bülow vergeben worden. So schrieb sie Harden einmal, dass sie gerne Andreas-Salomés „phantastisch dichterische Arbeit“ „Die Frau als Mensch“ besprechen und die Schriften Ellen Keys erörtern würde, jedoch fürchte, dass Bülow, die ihm früher „schon so gut Aufsätze geliefert“ habe, bereits an entsprechenden Rezensionen schreibe.

In den letzten Jahren klagt Dohm zunehmend über die „Altersschwäche meines Denkorgans“, „das nicht mehr in Trab kommen will.“ Dennoch engagiert sich die – wie sie sich selbst nannte – „Friedensenthusiastin“ von Beginn an vehement gegen den Ersten Weltkrieg, und klagt drei Tage nach dessen Ausbruch in einem Brief an Harden, über die „Zeit, wo das kaum vorstellbare Grausigste Ereigniß wird“. Doch denkt sie nun auch häufiger an ihre, wie sie vermutet, bald anstehende „Abreise aus dem Krähwinkel Erde“.

Die Herausgeberinnen haben die Briefe mit zahlreichen gelegentlich etwas ausführlicheren Kommentaren versehen, die auch für in der Geschichte deutschsprachiger Autorinnen und Feministinnen Bewanderte manch neue Informationen bieten dürften. Bedauerlich ist allerdings, dass nicht ermittelte Namen und andere kommentierungsbedürftige Stellen wie etwa die Erwähnung „eine[r] größere Novelle aus meiner Feder“, für die Dohm um 1880 einen Verleger suchte, von den Kommentatorinnen stillschweigend übergangen wurden.

Das schmälert den Wert des Bandes jedoch allenfalls geringfügig, nach dessen Lektüre man noch mehr als zuvor den Umstand verwünscht, dass nur ein Bruchteil von Dohms Briefen überliefert ist. Doch „wer weiß“, so hoffen die Herausgeberinnen, „[v]ielleicht spornt dieser Briefband Archivarinnen und Archivare, Bibliothekarinnen und Bibliothekare an, in den Tiefen ihrer Sammlungen zu suchen – nach Zeugnissen einer der wohl wichtigsten Schriftstellerinnen deutscher Sprache“. Und wenn dann noch eine möglichst wesentlich erweiterte Neuauflage des vorliegenden Brief-Bandes erfolgen würde, so wäre das ein guter Grund auch diese zu erstehen. Denn dass sich nicht nur Dohm-Fans, sondern überhaupt alle, die sich für die Geschichte der Frauenbewegung oder für die Literaturgeschichte um 1900 interessieren, das Buch beschaffen werden, dürfte sich von selbst verstehen.

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Hedwig Dohm: Briefe aus dem Krähwinkel.
Herausgegeben von Nikola Müller und Isabel Rohner.
trafo verlag, Berlin 2009.
171 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783896265630

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