Reisen, suchen, weiter ziehen, weiter suchen

In seinem Erzählband beobachtet Josef Haslinger „Zugvögel“

Von Johanna BackesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Backes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Josef Haslinger schickt die Figuren in seinem 2006 erschienen Erzählband „Zugvögel“ auf eine Reise. Das Ziel ihrer Raum- und Zeitreisen wird mal explizit genannt, oft bleibt es aber unbestimmt. Insofern ist die Reise eine Suche: Gesucht werden Personen, Gegenstände oder Erkenntnisse. Haslingers Figuren sind dabei keine Helden, Rebellen oder Wahnsinnige. Umgekehrt können oder wollen sie aber auch nicht ihren Platz in der ,Normalität‘ finden. Sie sind schräge Vögel, Zugvögel. Es zieht sie nach Frankfurt, sie gehen in der abgelegenen österreichischen Bergwelt auf die Suche, reisen zu einer Campingwagen-Imbissstätte mitten im Nachkriegsnormalität vorgebenden Kroatien, begeben sich in die Liebknechtstraße einer ostdeutschen Provinzstadt, nach Wien, in die Zeit des Zweiten Weltkrieges oder ins moderne Amerika. Sie reisen, fliegen und fahren getrieben von der Suche nach Vergangenheitsverwurzelungen und Gegenwartsgelüsten.

In der ersten Erzählung „ich hatte in frankfurt zu tun“ weckt der Kurzaufenthalt in einem Frankfurter Hotel bespielsweise Erinnerungen an das fast vergessene Leben in der Hausbesetzerszene der Main-Metropole und die damals unglücklich endende Jugendliebe. Die Erinnerung bleibt dabei diffus. Immer wieder entwinden sich die nostalgischen bis schmerzhaften Erinnerungen den Figuren. Geschickt weckt der Autor im Leser Zweifel an der Vollkommenheit seiner Figuren und deren Erinnerungskraft. Am Ende der Erzählung fragt er sich: Gab es diese Jugendliebe Martina in der Form, in der sich das Ich an sie erinnert, wirklich?

In „ich hatte in frankfurt zu tun“ veranschaulicht die zweifelhaft gewordene Erinnerung die verlorene Selbstgewissheit der Hauptfigur. In „amerika. ein reiseepos“, dem letzten Text dieses Bandes, ist es die verloren gegangene Beziehung zu den Mitmenschen. Als Fluginspektor George Foster fliegt die Hauptfigur kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten: nach Detroit, San Diego, Memphis, Dallas, Phoenix, Cincinnati, New Orleans, Chicago oder Nashville. Seine Identität und die Möglichkeit unbegrenzter Flüge beruhen dabei auf einem betrügerischen Tauschgeschäft. Berauscht entdeckt der Vielflieger zunächst die jeweiligen Vorzüge der einzelnen Flughäfen – Entspannungsräume in Dallas, Waschmaschinen und Trockner in Phoenix und Cincinnati, die Möglichkeit zum Taschentausch in Chicago oder „ausgerechnet in Nashville“ einen Ort für seine „explosive“ körperliche Liebe mit einer Stewardess. Später entfaltet sich ihm die wahre Identität Amerikas in den Lüften: „ich habe das wahre amerika entdeckt, und ich weiß, dass mich nichts davon abhalten kann, dorthin zurückzukehren“. Am Ende wird der falsche George Foster überführt. Getauschte Identitäten sind kein Dauerzustand, sondern ein Spiel mit Fremdheitserfahrungen. Wie jedes Spiel bleibt das nicht ohne Konsequenzen für die Realität. Der Protagonist George Foster bemerkt eine veränderte Haltung an sich: Inzwischen unterscheide er bei Flugzeugen zwischen „persönlichkeiten, die mir sympathisch oder unsympathisch waren“ – und nicht etwa bei Passagieren.

Auch „zugvögel“ variiert das Thema Suche. Hier ziehen Balkanflüchtlinge von potentieller Heimat zu potentieller Heimat weiter. Das Leben ist ein beständiges Fortbewegen, nie aber ein Ankommen. Nicht einmal in der Heimat Kroatien können diese Flüchtlinge sich wieder verwurzeln. Diese Sich-auf-einer-Flucht-Befindenden beobachtet die Ich-Figur von „zugvögel“, selbst als Tourist von einem weiteren Balkanflüchtling nach Kroatien begleitet, mit gemischten Gefühlen. Während die singende Tochter der kroatischen Imbissstättenbesitzerin sein erotisches Interesse weckt, provoziert die gelebte körperliche Liebe zwischen der Imbissbesitzerin selbst und seinem Reisebegleiter wiederum bei ihm Fluchtgedanken: „ich ging hinaus und setzte mich auf mirjanas moped […] am liebsten wäre ich damit über die berge abgehauen.“ Vor allem die Synästhesie verschiedenster Eindrücke überwältigt den Touristen: Das Klatschen des Musikpublikums geht in das Aufeinanderklatschen sich liebender Körper über, Schreie der Lust vermischen sich mit nicht zu unterdrückenden Schmerztönen, die Grenze zwischen Krieg und Frieden verwischt.

Haslinger erzählt von diesen Grenzverwischungen. Dabei macht er deutlich, dass sich nicht nur in krisengeschüttelten Regionen jederzeit ein Riss auftun kann. Überall, wo es vermeintlich Normalität gibt, gibt es auch zahlreiche Facetten der Flucht und der Suche – Risse. Er erzählt davon und er erzählt leicht. Auch im schreckensreichsten Ambiente wirken seine Geschichten nie tragisch. Eher hinterlassen seine Erzählungen die wehmütige Einsicht: Man bleibt ein Fremder auf der Suche nach sich selbst. Und wegen dieses wehmütigen und trotzdem leichten Tons begibt sich der Leser gerne mit Haslingers Figuren auf die Suche. Lesend. Und diesmal bleibt das Lesen nicht folgenlos: Am Ende sucht auch er sich ein bisschen.

Titelbild

Josef Haslinger: Zugvögel. Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
204 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3100300572
ISBN-13: 9783100300577

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