Finger weg!

Philip Ajouris Studienbuch zur Literatur um 1900 empfiehlt sich nicht

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Einführung der Bachelor- und Master-Studiengänge boomt eine bestimmte Sorte Bücher. Sie sind zwar an Studierende gerichtet, erinnern jedoch eher an Werke für den Schulunterricht. In ihnen sollen sogenannte Schlüsselqualifikationen vermittelt oder grundlegendes Fachwissen in leicht einzuübender und einfach abfragbarer Form vermittelt werden. Mit „Studienbücher Literaturwissenschaft“ hat der Akademie Verlag vor einiger Zeit eine entsprechende Reihe in sein Programm aufgenommen. Die ersten Bände sind erschienen und sollen den Lesenden beispielsweise die „Gender Studies“ nahe bringen.

Der jüngste von Philip Ajouri vorgelegte Band gilt einer literarhistorischen Epoche, nämlich der „Literatur um 1900“ und befasst sich ausweislich des Untertitels mit „Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus“. Dass Ajouris Darstellung und seine Wertungen (abgesehen von einem, allerdings zentralen Punkt, auf den noch zurückzukommen sein wird) oft richtig und nachvollziehbar sind, soll nicht bestritten werden. Doch ist es auch nicht besonders positiv hervorzuheben. Denn das darf man von einer Einführung selbstverständlich erwarten. Unerwartet allerdings sind die zahlreichen kleineren Unzulänglichkeiten verschiedener Art, mit denen das Buch aufwartet und zu denen eine große tritt. Zu den kleineren zählen sprachliche Ungenauigkeiten, unscharfe Aussagen und Irrtümer im Detail. Bei der größeren handelt es sich um die grundsätzliche Missachtung schreibender Frauen.

Was erstere betrifft, stellt der Autor etwa innerhalb weniger Zeilen fest, dass sich um 1900 „die literarischen Strömungen schnell gegenseitig zu überbieten trachteten“ und dass „die Opposition zu anderen Strömungen“ dabei „häufig ein zentrales Moment des eigenen Programms“ gewesen sei, ohne zu bemerken, dass sich Überbietung und Opposition in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinender befinden. Zielt das eine auf noch mehr vom Gleichen, so das andere auf dessen Gegensatz oder doch zumindest Widerpart. Karl Marx, so meint der Autor weiter, habe „die Abhängigkeit des sogenannten Überbaus […] von der Basis entdeckt“. [Herv. R.L.] Tatsächlich hat der Begründer des vermeintlich wissenschaftlichen Sozialismus ein Basis/Überbau-Theorem entworfen, dessen Plausibilität und Erklärungskraft im Übrigen nicht eben eminent zu nennen sind. Entdeckt aber werden Kontinente, Sterne und eventuell Naturgesetze, wobei sich über letzteres schon streiten lässt. Die „Naturalisten“, schreibt Ajouri, hätten ,,eine wahre Wiedergabe der Natur im Kunstwerk“ angestrebt. Sollte der berühmte französische Naturalist Émile Zola am Ende etwa über Wiesen und Wälder geschrieben haben, und nicht über Bergwerke und Bordelle? Und wenn der Autor zutreffenderweise betont, dass um 1900 „die Bewusstseinspsychologie und die Psychoanalyse besondere Bedeutung für die Literatur“ gewannen, so muss sich der anarchistische Psychoanalytiker Otto Gross sogleich gefallen lassen, fälschlicherweise als „expressionistische[r] Dichter“ vorgestellt zu werden.

Doch all dies verblasst neben dem zentralen Kritikpunkt: Ajouri arbeitet ganz offenbar daran, einen möglichst rein männlichen Kanon zu reetablieren. Diesen Eindruck vermittelt zumindest sein Buch. Literatinnen muss man nachgerade mit der Lupe suchen. Selbst so wichtige Autorinnen wie Gabriele Reuter, Hedwig Dohm oder Helene Böhlau sind ihm völlig unbekannt. Zeigt sich der Autor doch einmal so gnädig, eine schreibende Frau zu erwähnen, dann stutzt er sie auf das Maß einer bloßen Autorin von trivial und politisch als völkisch anrüchiger „Heimatliteratur“ zurecht, wie dies zu recht wieder stärker beachteten Clara Viebig geschieht. Immerhin weist Ajouri darauf hin, dass sie im Unterschied zu manch anderen VerfasserInnen von Heimatliteratur von den Nationalsozialisten „kritisch betrachtet“ worden ist. Eine andere Autorin, Franziska zu Reventlow, wird als „in vielerlei Hinsicht typische und zentrale Figur“ der Bohème genannt, denn sie habe sich „von ihrem Mann getrennt“ und „alleine einen Sohn [erzogen], dessen Vater sie nie preisgab“. Typisch hätte das ja wohl allenfalls für die Frauen der Bohème sein können. Oder sollte Ajouri ernsthaft glauben, die Herren Bohemiens hätten ihr Söhne (respektive) Kinder üblicherweise alleine aufgezogen und Stillschweigen darüber gewahrt, wer deren jeweiliger Vater (oder doch eher Mutter?) ist? Ganz davon abgesehen, hätte man gerne gewusst, welche Frauen aus der Bohème dem Beispiel Reventlows folgten. Sicher, etliche von ihnen waren gezwungen, ihre Kinder alleine oder von Fremden aufziehen zu lassen. Man denke etwa an Regina Ullmann. Doch wer von ihnen hat sich wie Reventlow dieses harte und damals verachtete Leben der ledigen Mutterschaft aus freien Stücken ausgesucht und welche hat sich geweigert, den Vater zu nennen? Über Reventlows literarisches Schaffen, aus dem so wichtige Romane wie „Herrn Dames Aufzeichnungen aus einem merkwürdigen Stadtteil“ hervorgingen, erfahren die angehenden GermanistInnen der Zielgruppe des Buches nichts weiter, als dass sie „dichterisch tätig“ gewesen ist.

Wichtiger scheint dem Autor da schon ihr „bedeutende[r] Freundeskreis“. Namentlich nennt er „die Dichter Rainer Maria Rilke und Ludwig Klages“. Wie das eben so ist: Frauen sind nicht selbst bedeutend, sondern kennen allenfalls bedeutende Männer. So wird auch die erfolgreiche Verfasserin zahlreicher Novellen und Romane Lou Andreas-Salomé nur als „Freundin“ Rilkes sowie als „Therapeutin“ genannt, die „eine Art Psychoanalyse“ (nichts wirklich ernsthaftes also wohl) betrieben habe, und die führende Lyrikerin Else Lasker-Schüler wird als eine Bekannte des (im Unterschied zu ihr heute eher unbekannten) Herwarth Walden vorgestellt, die in der Schwabinger Bohème verkehrt habe. Kein Wort über ihr Werk! Doch halt, im Abschnitt über die „historische Zäsur“ des Nationalsozialismus werden die Namen von 16 Autoren und einer Autorin aneinandergereiht, deren Bücher auf dem Scheiterhaufen landeten. Bei dieser einen Autorin handelt es sich um Else Lasker-Schüler.

Allerdings kommt selbst Ajouri nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass die „patriarchalische Stellung des Vaters“ um und nach 1900 „durch die beginnende Emanzipation der Frau und die Jugendbewegung ins Wanken [geriet]“, wofür sich „zahlreichen Zeugnisse“ finden ließen. Eines von ihnen hat er ausgemacht. Es ist, wer hätte es gedacht, das Werk eines Mannes: Walter Hasenclevers Drama „Der Sohn“. Dem entspricht, dass er der Frage, „auf welche Weise […] Erotik und Geschlechterrollen in der Literatur des Naturalismus und des Fin de Siècle gestaltet“ wurden, wiederum anhand der Werke zweier Männer nachgeht: Henrik Ibsens „Nora“ und Frank Wedekinds „Lulu-Dramen“. Frauen haben zu dem Thema offenbar nichts beizusteuern. Aber waren da nicht so bedeutende einschlägige Romane wie etwa Gabriele Reuters „Aus guter Familie“, Else Jerusalems „Der heilige Skarabäus“ und Reventlows „Von Paul zu Pedro“ oder Marie Janitscheks Novellensammlung „Die neue Eva“.

Wie der Text, so der Anhang. In der Rubrik „Werkausgaben, Periodika und Institutionen zu einzelnen Autoren“ werden ganz ihrer Überschrift gemäß tatsächlich ausschließlich männliche AutorInnen gewürdigt. Und auch in den jedes Kapitel beschließenden „Lektüreempfehlungen“ legt der Autor dem ja wohl meist studentischen Publikum als zu lesende „Quellen“ nur ein einziges von einer Frau geschaffenes Werk ans Herz, einen Roman der ‚Heimatliteratin‘ Clara Viebig. Ihm stehen 67 Empfehlungen von Werken aus Männerhand gegenüber.

Da Ajouris fast vollständige Nichtbeachtung und ausnahmslose Geringschätzung der zeitgenössischen Literatinnen die literarische Epoche um 1900 ganz grundsätzlich verzeichnet, kann die hier auszusprechende Empfehlung nur lauten: Lassen Sie die Finger von diesem Buch.

Titelbild

Philip Ajouri: Literatur um 1900. Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus.
Akademie Verlag, Berlin 2009.
253 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783050045368

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