In Gott leben

Zur deutschsprachigen Ausgabe der „Heiligenbiographie“ des persischen Sufi Fariduddin Attar

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sein geringer Bekanntheitsgrad in Europa erstaunt angesichts seines Einflusses nicht nur auf östliche, sondern auch auf westliche Mystiker: Fariduddin Attar, geboren in der Nähe der ostiranischen Stadt Nischapur gilt als einer der bedeutendsten Sufi zur Zeit der mongolischen Invasion unter Dschinghis Khan. Über sein Leben indes ist nicht viel bekannt. Der deutsche Orientalist Hellmut Ritter (1892-1971) klärt den Leser in seinem Buch „Das Meer der Seele“ (Leiden 1955/78) über das Wenige auf: Seine Jugend soll er in der heiligen Stadt Maschhad verbracht haben und anschließend viele Jahre auf Reisen gewesen sein. Nach der Rückkehr nach Nischapur, so wird überliefert, sei er als Drogist tätig gewesen. Darauf deutet auch sein Nachname hin, wobei der Attar neben der Funktion des Apothekers im gewissen Sinne auch die des Arztes mit einschließt. Um 1220/21 sei er dann ebendort verstorben, der Legende nach als Sklave eines mongolischen Herrn.

Von Attars umfangreichem Werk ist viel überliefert, auch wenn man die Texte abzieht, die nicht sicher von ihm selbst stammen. Neben zwei Lyriksammlungen („Diwan“ und „Mukhtarname“) und einem Moralbüchlein („Pandname“/Buch der Ratschläge) existieren vor allem eine Reihe von „Mathnawis“, Werke belehrenden und erzählenden Inhalts, die seine eigene Entwicklung widerspiegeln: Neben einem Liebes- und Abenteuerroman mit dem Titel „Chosrau u Gul“ aus der Jugendzeit existieren Textsammlungen primär religiösen Inhalts, von denen fünf hier genannt seien: Das „Uschturname“ (Kamelbuch), das „Asrarname“ (Buch der Geheimnisse), das „Ilahiname“ (Göttliche Buch), das „Musibatname“ (Buch der Not) und das „Mantiq ut-tair“ (Gespräch der Vögel). Der letztere Text ist vielleicht der bekannteste des persischen Mystikers: Er berichtet von tausend Vögeln, die eine Reise durch sieben Täler zum Vogelkönig Simurgh unternehmen. Es handelt sich um eine gefährliche und beschwerliche Reise, bei der es lediglich dreißig Vögeln („si murgh“ auf Persisch) gelingt, ins letzte Tal zu kommen. Dort finden sie sich im König wie in einem Spiegel wieder und gehen, von ihm aufgefordert, in ihm unter. Dargestellt wird auf diese Weise das Erlöschen beziehungsweise Entwerden („fana“ auf Arabisch) der Seelen in Gott.

Doch es gibt ein anderes, für die Geschichte und Entwicklung des Sufismus ebenfalls bedeutsames Werk von Fariduddin Attar, das im Folgenden näher vorgestellt werden soll: In seiner „Tathkiratu ‘l-auliya“ (zu deutsch etwa „Heiligenbiographie“) gibt der persische Poet die Überlieferungen und Äußerungen von insgesamt siebenundneunzig islamischen Mystikern aus den ersten vier Jahrhunderten nach der Entstehung und Ausweitung des Islam wieder. Nach Jan Rypka (1886-1968), dem Verfasser der „Iranischen Literaturgeschichte“ (Leipzig 1959) ist die Kompilation ein „musterhaftes Werk alter, schlichter persischer Prosa“. Der tschechische Orientalist geht dabei allerdings davon aus, dass insgesamt 25 der darin enthaltenen Lebensbeschreibungen nicht von Attar selbst, sondern hauptsächlich von dem 1126 verstorbenen persischen Mystiker Ahmad Ghazzali stammen.

Eine deutschsprachige Auswahl der „Tathkiratu ‘l-auliya“ ist – basierend auf der englischsprachigen Edition (London/Leiden 1905/07) des britischen Orientalisten Reynold A. Nicholson (1868-1945) – erstmals 1984 erschienen. Nun ist diese Ausgabe vor kurzem neu aufgelegt worden. Dabei schreibt Gisela Wendt, die Übersetzerin und Herausgeberin von „Frühislamische Mystiker. Aus Fariduddin Attars ,Heiligenbiographie‘. Überlieferungen und Äusserungen“ in ihrer Einleitung, es gehe ihr bei den Aussagen von und über die dreiunddreißig ausgewählten islamischen Mystiker und Märtyrer „weder um Historisches noch Anekdotisches, sondern um den geistigen Inhalt, der sich nicht in Worte fassen lässt, doch vielleicht herauszuspüren ist“.

Dennoch, trotz der Schwierigkeit, den „geistigen Inhalt“ der Texte adäquat wiederzugeben, soll ein Versuch unternommen werden. Wovon handeln die Überlieferungen und Äußerungen der „Heiligen“ – Heiligen nicht im christlichen, sondern in dem von hoch verehrten Weisen. Die dreiunddreißig Abschnitte, die jeweils mit einer Kurzbiografie des frühislamischen Mystikers eingeleitet werden, vermitteln in Form von Geschichten, Legenden und Aphorismen das lebendige Bild einer geistigen Welt, die sich in der Beziehung von Meister und Schüler permanent erneuert. Was auffällt, ist die wechselseitige Anregung und Hilfe und die schier unerschöpfliche Wissbegierde sowohl der Lehrenden als auch der Lernenden. Beide haben nicht selten schon eine wissenschaftliche Ausbildung absolviert, wobei die Koran-Erfahrung von Kindheit an vorauszusetzen ist.

Einige der bedeutendsten Sufi seien hier genannt: Rabi’a al-’Adawiya, die einzige Frau in der Auswahlsammlung. Sie ist bekannt als Verkünderin der mystischen Liebe und Kameradschaft zu Gott und soll etwa 801 nach einem streng asketischen Leben in Basra gestorben sein. Ebenfalls enthaltsam lebend war der gelehrte Sufischeich und Prediger Hasan al-Basri, der 728 in derselben Stadt verstorben ist. Er hat großen Einfluss auf die mystische Richtung der Theologie gehabt, wodurch er bei den islamischen Mystikern als ein sehr früher Vertreter ihrer Lehren betrachtet wird. Ferner zu erwähnen ist Bayazid Bistami, Enkel eines Zoroastriers, gestorben um 875 in Bistam im persischen Khorasan. Er ist einer der ersten, der das Bild der Himmelsreise, das dem Muslim aus dem Leben Mohammeds vertraut ist, als Bild für den mystischen Weg benutzt.

Populär, aber auch misstrauisch beäugt, weil unter den Sufis und auch der Bevölkerung Bagdads durch seine radikalen und schockierenden Äußerungen wie „ana’l-haqq“, zu deutsch „Ich bin die absolute Wahrheit“, aufgefallen, und in der Folge von orthodoxen Muslimen der Ketzerei bezichtigt, ist Mansur al-Halladsch. Der um 857 im nordiranischen Tus geborene und um 922 hingerichtete Mystiker huldigt der Apotheose des Menschen als der Inkarnation Gottes: Den Weg, den der Mensch einschlagen müsse, um die göttliche Substanz in sich ganz zu befreien, selber Gott zu werden, sieht er in der ekstatischen Entwerdung. Im Gegensatz zu Halladsch steht sein früherer Lehrer, der Perser Abu’l-Qasim Muhammad Dschunaid (etwa 825-910), Haupt des Bagdader Sufikreises und bis heute eine Autorität. Dieser strebt nach einer „Zweiten Nüchternheit“: So ist seiner Meinung nach das Ziel des Sufismus nicht das „Einheitserlebnis“, sondern der Zustand nach der Rückkehr dieses Erlebnisses zum Bewusstsein seiner selbst. Nach dieser Rückkehr besäße man die Klarheit der Gotteserkenntnis, das Leben sei ein „Leben in Gott“. Allerdings sagt Dschunaid auch, dass man nicht ein von Gott geleitetes Leben in einsamer Abgeschiedenheit führen solle. Vielmehr soll man fest in der Gemeinschaft der Mitmenschen stehen, um ihnen ein Vorbild sein und ihnen helfend zur Seite stehen zu können.

Der Großteil der in der „Heiligenbiographie“ vorgestellten Sufi stammt aus dem Raum Persien und Mesopotamien. So unterschiedlich ihre soziale Herkunft und ihr Bildungsgrad auch sind, im Mittelpunkt steht bei ihnen allen der Wunsch nach einem sinnreichen Leben jenseits der materiellen Welt und auch der nach der Erklärung des Irrationalen, das ein Vakuum darstellt und nach Auffüllung drängt. Damit verbunden ist die Sehnsucht nach einem tieferen Verständnis des Daseins, der „Enthüllung des Verhüllten“, und schließlich nach der Vereinigung des „Liebenden“ (Sufi) mit dem „Geliebten“ (Gott), der mystischen Unio.

Wie verschiedenartig die Wege auch sind, auf denen das „Wissen um das Verborgene“ und die Gotteserkenntnis gesucht werden, die Überlieferungen und Äußerungen der „Heiligen“ zeugen neben den Erfahrungen der Askese und Meditation, Liebe und Ekstase auch von einer tiefen Weisheit dieser „ewigen Wanderer“ in Fragen sowohl des diesseitigen als auch des jenseitigen Lebens. Zwei Mystiker seien in diesem Zusammenhang abschließend zitiert: „Bayazid Bistami wurde gefragt: ,Wie erkennt der Mensch, dass er im wahren Wissen angekommen ist?‘ Bayazid sagte: ,In dem Augenblick, da er – von Gott unterwiesen – vergeht, bleibt er – ohne Selbst und ohne Schöpfung – auf dem Grunde Gottes. So vergeht er und bleibt, bleibt er und vergeht, stirbt er und lebt, lebt er und stirbt, wird das Bedeckte enthüllt und das Enthüllte bedeckt.’“ Und von dem aus Khorasan stammenden und um 1030 verstorbenen Sufi Abu ‘l-Hasan al-Kharaqani heißt es: „Wenn dich jemand fragt, ob der Vergängliche (fani) das ewig Bleibende (baqi) sieht, so antworte ihm: ,Heute, in diesem Hause der Vergänglichkeit, weiss der Sklave [bzw. der Diener Gottes] um das Bleibende. Morgen, in dem Hause der Beständigkeit, wird dieses Wissen zum Licht, und durch dieses ewige Licht sieht er das Bleibende.‘“

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Frühislamische Mystiker. Aus Fariduddin 'Attars "Heiligenbiographie". Überlieferungen und Äusserungen. Nach der Edition von Reynold A. Nicholson.
Übersetzt aus dem Persischen von Gisela Wendt.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
104 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835303973

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