Philosophisches und politisches Wahrsprechen

Michel Foucaults Vorlesungen über die „Regierung des Selbst und der anderen“

Von Patrick BaumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Baum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem vor kurzem bei Suhrkamp erschienenen Band „Die Regierung des Selbst und der anderen“ (1982/1983) liegt die vorletzte der Vorlesungen, die Michel Foucault in den 1980er-Jahren am Collège de France gehalten hat, in deutscher Übersetzung vor. Auf dem Waschzettel ist etwas irreführend von den „letzten Vorlesungen“ die Rede, doch gibt es noch einen Band mit Vorlesungen aus dem akademischen Jahr 1983/1984, die freilich an das Thema der vorhergehenden Vorlesungen anknüpfen. Unter dem Titel „Le courage de la vérité“ ist dieser Band in Frankreich unterdessen bereits veröffentlicht worden.

Die Vorlesungen zur „Regierung des Selbst“ schließen an die im Vorjahr gehaltenen Vorlesungen zur „Hermeneutik des Selbst“ an. Standen in jenen die Selbstsorge und die mit ihr verbundenen Techniken im Zentrum des Interesses, so ist es jetzt die Sorge um die anderen, die Foucault in Gestalt der antiken parrhesia untersucht. Die parrhesia, das „Wahrsprechen“, ist die Rede des antiken Lehrmeisters, der freimütig seinen Schülern oder einem Publikum mitteilt, was er für wahr hält. Im Zentrum der Vorlesungen steht dabei vor allem die politische parrhesia, die in zwei großen Formen auftritt: der demokratischen und der autokratischen. Bei der ersten Form handelt es sich um eine öffentliche Rede vor Publikum, bei der zweiten um eine Privatrede, mit der der Redner auf die Seele eines Fürsten einzuwirken versucht. Seine Überlegungen entwickelt Foucault mittels kleinschrittiger Textanalyse: Nach einer ausführlichen methodologischen Einleitung, in der Foucault noch einmal seine bisherigen Arbeiten perspektiviert, diskutiert er minutiös die Formen des „Wahrsprechens“ in Euripides’ Tragödie „Ion“; an diese Überlegungen schließen sich genaue Lektüren Platonischer Texte, namentlich der „Apologie“, des „Gorgias“ und des „Phaidros“ sowie des fünften und siebten Briefes, an. In diesen Analysen präpariert Foucault eine philosophisch-politische parrhesia heraus, die sich von politischer Rhetorik dadurch unterscheidet, dass sie nicht auf Manipulation des Publikums abzielt, sondern vor allem Ausdruck von Wahrhaftigkeit ist.

Dieser Band mit Vorlesungen Foucaults ist von besonderem Interesse, weil er Überlegungen präsentiert, die zu Lebzeiten des Theoretikers nicht veröffentlicht wurden (einen knappen Abriss bilden lediglich die nicht autorisierten Berkeley-Vorlesungen). Neben dem Vorlesungstext bietet er – wie andere Vorlesungsbände auch – ein Vorwort der Reihen-Herausgeber François Ewald und Alessandro Fontana, eine historische Situierung durch den Band-Herausgeber Frédéric Gros sowie ein Namensverzeichnis. Die Übersetzung der Vorlesungen ist solide, in die Übersetzung des Vorworts haben sich aber einige Fehler – vor allem bei der Schreibweise von Namen und der Setzung von accents – eingeschlichen. Diese Fehler sind bemerkenswert, weil das Vorwort weitgehend den Vorworten der anderen Vorlesungsbände entspricht, die ihrerseits diese Fehler aber nicht aufweisen. Wurde bei der Herstellung eventuell versehentlich eine frühere, fehlerhafte Textfassung verwendet? Schwerer als dieser kleine Makel wiegt aber der Verzicht auf das in der französischen Ausgabe enthaltene Sachregister; dieser Verzicht schmälert doch etwas den Gebrauchswert der deutschen Übersetzung. Gleichwohl ist der Band eine wertvolle Ergänzung der eigenen Foucault-Bibliothek.

Titelbild

Michel Foucault: Die Regieruung des Selbst und der anderen. Vorlesungen am Collège de France 1982/83.
Übersetzt aus dem Französischen von Jürgen Schröder.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
505 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783518585375

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