„Dein Leben soll kalt sein“

Kühle Ästheten als einsame Künstler? Versuch der Neubewertung eines zähen Klischeebildes bei Thomas Mann

Von Jörg PottbeckersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Pottbeckers

Sonderlich glücklich scheinen sie allesamt nicht zu sein, die großen Künstlerfiguren bei Thomas Mann. Mal treten sie als einsame Außenseiter auf, die dem lebensfrohen Treiben ihrer Mitmenschen nur bedrückt zuschauen dürfen, dann als alternde, ausgebrannte Schriftsteller, die sich rettungs- und aussichtslos in eine viel jüngere Urlaubsbekanntschaft verlieben, schließlich als zurückgezogen lebende, hochmütige Komponisten, die unglücklicherweise einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben, der wiederum ein Liebesverbot impliziert. Kröger, Aschenbach und Leverkühn leiden, zumindest auf den ersten Blick, allesamt an einem grundlegenden Dilemma: Ihre kühle, ästhetisch-intelligible Weltsicht mit einer emotionsbejahenden, sinnlich-warmen Lebenshaltung zu kombinieren. Fast schon als unvermeidliches Resultat dieses Disputs, bei dem die Wärme immer unterliegt, ist die Positionierung der Mann’schen Künstler in den blutarmen Randbereichen, als Außenseiter oder bloß passive Beobachter. „Herzenswärme contra Kälte, Bürgerlichkeit contra Ästhetizismus (Kurzke) – so ließe sich dieser Disput als Quasi-Duell zweier unversöhnlicher Persönlichkeitsfacetten umreißen. Der leidende, kranke Künstler, dessen unerfüllte Leidenschaften aber seine Kunst befeuern – dieses Klischeebild scheint genau hier seinen Ursprung zu haben: Kröger, Aschenbach, Leverkühn sind gleichermaßen leidende (aber natürlich unterschiedlich kranke) Künstler, denen zwar kein originäres Gefühl mehr möglich ist, aber als Künstler (wohl gerade deshalb) brillieren. Statt warmer, authentischer Emotion also lediglich eine Existenz im „Kult der Kälte“ (Gnüg)? Nicht übersehen werden darf, dass die Künstlerfiguren bei Mann auch immer leidenschaftlich Liebende sind – ihre Emotionalität aber eben nicht unter kategorisierenden Schlagwörtern wie ‚Kälte‘ und ‚Wärme‘ adäquat subsumiert werden können. Tatsächlich lässt sich eine eigentümliche Symbiose aus beiden Zuständen konstatieren, die aber keineswegs in kühler Entsagung wurzelt, sondern vielmehr Ausdruck einer autonomen, individuellen und vor allem selbstgewählten Emotionalität ist.

Mag „eine Liebe die wärmt“ („Doktor Faustus“) durchaus behaglich und wohlig sein, so ist sie, zumindest in ihrer konservativ-bürgerlichen Variante, auch bedächtig, prosaisch und ein wenig bieder. Leverkühn ist eine solche wärmende Liebe explizit verboten – aber er erfährt sie (als anti-bürgerliche, weil gleichgeschlechtliche Liebe) trotzdem. Aschenbach ist, was gerne übersehen wird, Ehemann und Vater einer Tochter – die Beiläufigkeit und Kürze dieser Erwähnung suggeriert jedoch zugleich ihre Irrelevanz. Kröger kennt durchaus exzessive Leidenschaften (wie im Text kurz angedeutet wird); in seinem vordergründig sehnsuchtsvollen Blick auf die blonde Bürgerlichkeit scheint aber immer auch ein wenig Verachtung zu liegen. Die vermeintlich fehlende Wärme der Mann’schen Künstlerfiguren ist also keineswegs nur negativ zu fassen, sondern impliziert eine Absage an die expressive Gleichförmigkeit einer konservativ-bürgerlichen Routine-Emotionalität. Sie ist weniger Leere, als vielmehr bejahender Verzicht ohne Bedauern.

Zunächst ist es fast schon rührend zu beobachten, wie der junge, vierzehnjährige Tonio Kröger um die Aufmerksamkeit des ungewöhnlich hübschen Hans Hansen buhlt. Noch der kleinste Gunstbeweis lässt sein Innerstes hüpfen und jubeln vor Freude und noch kleinere Zurückweisungen oder Gleichgültigkeiten können tiefsten Schmerz auslösen. Keine Frage – hier liebt und leidet jemand ganz fürchterlich. Jedoch kann von einer kindlich-naiven und entsprechend selbstlosen Liebe (oder besser: Schwärmerei) bei Kröger keine Rede sein. Vielmehr erinnert sein Habitus an das Verhalten heutiger Teenager, die ein Pop-Idol aus der Ferne anbeten. Hansen ist unerreichbar für Kröger. Hansen ist schön, beliebt (selbst seine Lehrer sind ihm „beinahe mit Zärtlichkeit zugetan“), umschwärmt und wird sogar von Erwachsenen mit Ehrerbietung behandelt. Krögers vermeintliche Liebe zu ihm basiert ausschließlich auf Hansens sozialem Status, nicht etwa auf einer emotionalen, persönlichen Bindung. Er ist eine Podestfigur. Kröger liebt ihn, gerade weil er unerreichbar ist. Warum? Weil Kröger den sozialen und gesellschaftlichen Status von Hansen zu einer filigranen Art der Selbststilisierung benutzt. Kröger sucht die Nähe und Gesellschaft zu ihm lediglich zur eigenen Selbstbestätigung. Indem er insgeheim mit einer latenten Verachtung auf die solide Mittelmäßigkeit Hansens (der Kröger intellektuell weit unterlegen ist) herabblickt, erhebt er sich selbst über genau den Mitschüler, der über allen anderen steht. Kröger ist dem Besten überlegen. Hybris, könnte man meinen, ihm Kalkül und Berechnung unterstellen, wenn man noch einen anderen Aspekt berücksichtigt: Die Unerreichbarkeit inspiriert Kröger. Hansen verkörpert, natürlich unbewusst und ungewollt, die Muse Krögers. Nur die erhoffte Tragik der Ablehnung taugt als Inspiration und Sujet für den werdenden Künstler. Akzeptanz und Erwiderung dagegen wären künstlerisch unergiebig, da tatsächlich keine Basis, keine Gemeinsamkeiten zwischen beiden Figuren vorhanden sind. Zudem sind das Glück und die Harmonie banal, mittelmäßig und undramatisch. Die Ablehnung ist also Mittel zur Stilisierung und Inspiration gleichermaßen. Kröger leidet nicht, sondern erhöht sein Ego und steigert seine künstlerische Potenz.

Entsprechend mühe- und übergangslos kann Kröger die eine Liebe gegen eine neue eintauschen. Hansen hat ausgedient und erscheint plötzlich nur noch als Laune eines kleinen, dummen Jungen. Diesmal ist Ingeborg Holm Krögers Auserwählte, die ihm zunächst nur deshalb auffällt, weil sie so wenig mädchenhaft ist. Ihre Hand ist nicht sonderlich schmal, nicht sonderlich fein, dafür hat ihre Stimme etwas Betörendes für Kröger. Im Grunde aber ist Holm eine Podestfigur wie Hansen. Die kurzlebige Faszination, die sie auf Kröger ausübt, entzündet sich an Marginalien wie ihrer Haar- und Augenfarbe und ihrer Lustigkeit. Die im Text kolportierte Kröger’sche Larmoyanz über ihre Unerreichbarkeit ist aber, wie schon bei Hansen, auch hier mit Vorsicht zu rezipieren. Kröger, mag es auch paradox klingen, will keine Erwiderung, keine Annäherung. „Glück“, sagt Kröger, „ist nicht, geliebt zu werden; das ist eine mit Ekel gemischte Genugtuung für die Eitelkeit.“ Ekel? Ja, wenn die Liebe von jemandem erwidert wird, den man eigentlich verachtet. Wie Kröger Holm und Hansen verachtet. Seine pathetisch-sentimentalen Selbstbeschwörungen, er werde ihr treu sein und lieben, solange er lebe, werden von ihm selbst mit der Frage, warum er denn Hansen, über den er doch ähnlich dachte, nun ganz und gar vergessen habe, relativiert. Treue ist auf Erden unmöglich – so lautet schließlich sein gar nicht so resignatives Fazit, auf das er mit einem gleichgültigen Schulterzucken reagiert.

Abgehakt sind die stilisierten Schwärmereien seiner Jugendzeit, voller Spott und latenter Arroganz verlässt Kröger die asketische Enge seiner Heimatstadt und führt fortan ein exzessives Leben im warmen, sonnigen Süden. Von diesem abrupten Wechsel von beständig-kühler Bürgerlichkeit zu sinnlich-sexueller Sprunghaftigkeit verspricht Kröger sich ein „üppigeres Reifen seiner Kunst“ – neue Erfahrungen müssen her, um seine künstlerische Entwicklung zu forcieren. Doch der Kleinbürger Kröger leidet unter Gewissensbissen – ist Sexualität, auch wenn sie Freude und Lust bereitet, nicht eigentlich etwas Schlechtes? Er empfindet wieder Verachtung, diesmal jedoch für sich selbst. Warum eigentlich? Lustvolle Ausschweifung und konservative Biederkeit scheinen zunächst kaum kompatibel. Nebulös bleibt allerdings, was für Ausschweifungen sich der wohl unerfahrene Kröger überhaupt gestattet. Wird hier lediglich kokettiert mit einer Verruchtheit, die tatsächlich nur eine vorsichtige Abkehr von Artigkeit und Enthaltsamkeit ist? Der verklemmte sprachliche Schwulst („Abenteuer des Fleisches“, „Wollust“, „Lechzen“, „heiße Schuld“) verdeckt wohl die Harmlosigkeit. Aber die physische Sensibilisierung (welcher Art auch immer) verschärft seine Künstlerschaft. Selbstverachtung und Selbststilisierung stehen auch hier in einem Wechselspiel. Die inspirierende Tragik der Ablehnung wird gesucht, geradezu fabriziert und ausgekostet. Das kolportierte haltlose Treiben Krögers „zwischen krassen Extremen, zwischen eisiger Geistigkeit und verzehrender Sinnenglut“ ist aber kaum als persönlicher, tragischer Disput zweier divergierender Persönlichkeitsfacetten zu verstehen, als vielmehr als eine zunächst irritierend sinnesfrohe, schließlich aber lebensbejahende Emanzipation eines sich aus Zwängen befreienden Individuums. Rationale Kälte und emotionale Wärme sind nicht unvereinbar. Besser aber, sie bleiben es – zumindest, wenn die daraus wachsende Divergenz so fruchtbar ist. Entsprechend will Kröger nichts weniger, als an den „Wonnen der Gewöhnlichkeit“, am Normalen, am Anständigen teilhaben, wie er im Gespräch mit Lisaweta vorgibt. Er liebt, wie Kröger im gleichen Dialog gesteht, das Leben – nur eben seine individuelle Art des Lebens. Nicht gemeint ist damit die Existenz der „blonden und lässig-plumpen“, „fröhlichen und schlichten“ oder gar „dürftigen“ Menschen, die ihm begegnen. Die Attribute, die mit diesem bodenständig-bürgerlichen Menschenschlag konnotiert werden – Reinheit, Ungetrübtheit, Heiterkeit – sind nur vordergründig als positiv zu verstehen. Sie implizieren ebenso eine Mittelmäßigkeit, Gleichförmigkeit und Langeweile, die Kröger zutiefst verabscheut. Sein vordergründig sehnsüchtiger Blick auf die Gewöhnlichen ist ein Kokettieren, mehr lässt sein elitäres Selbstverständnis nicht zu. Zweifellos ist eine authentische, weil selbstgewählte Individualität in ihrer praktischen, alltäglichen Realisierung diffizil. Sie impliziert fast zwangsläufig eine solitäre Existenz, die sich durch Abgrenzung und Verneinung definiert. Sie erfordert aber Leidenschaft, nicht Kälte.

„Genie ist zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpiration“ sagt Umberto Eco über den künstlerischen Schaffensprozess und unterstellt zugleich allen Autoren, die behaupten, im Rausch der Inspiration geschrieben zu haben, dass sie lügen. Zweifellos ist Aschenbach ein solches Genie, für den das Schreiben primär ein mühevoller, schweißtreibender Prozess ist. Keineswegs aber eine Last. Es ist vielmehr ein „leidenschaftlicher Dienst“, den Aschenbach nicht nur wegen seiner produktiven Phasen liebt, sondern auch den entnervenden, täglich von neuem geführten Kampf um das Gelingen liebt er – zumindest „fast“. Schließlich hat Aschenbach es, wie vermutlich alle großen Autoren, nur durch kontinuierliche Selbstdisziplinierung zur literarischen Meisterschaft und letztlich zu Ruhm und Anerkennung gebracht. Mag das Schreiben auch manchmal Kummer, Qual und Einsamkeit bedeuten, so werden diese Begriffe von Aschenbach nicht rein negativ konnotiert, nicht als passive Duldung verstanden, sondern als „aktive Leistung“, als „ein positiver Triumph“ stilisiert, dem eine „elegante Selbstbeherrschung“ zugrunde liegt. Problemlos lässt sich diese Haltung zum künstlerischen Werk in eine spezifische Lebensphilosophie transformieren. Die Selbstbeherrschung prägt die Kunst wie das Leben, stoisch auszuharren, „während die Schwerter und Speere durch den Leib gehen“, wird zum ethischen Ideal erhoben.

Aschenbachs Tod in Venedig ist insofern die ebenso konsequente wie radikale Umsetzung seines künstlerischen Produktionsverständnisses auf sein Leben. Das Schlüsselwort, das dieses Selbstverständnis umreißt, ist jenes der Würde. Aschenbachs Jugend wird als Zeit der Missgriffe, der Taktlosigkeit und Unbesonnenheit charakterisiert – er war „leidenschaftlich“ und „problematisch“, wie es im Text etwas erratisch heißt, „wie nur irgendein Jüngling“. In diesem jugendlichen Alter heiratet Aschenbach und wird Vater einer Tochter. Diese Ehe, die nicht lange andauert (Aschenbachs Gattin stirbt „nach kurzer Glücksfrist“), als einen solchen juvenilen Missgriff oder Unbesonnenheit zu betrachten, scheint naheliegend. Schließlich wird weder der Name der Gattin noch jener der Tochter erwähnt, auch das jetzige Verhältnis zu seinem wohl einzigen Kind bleibt offen. Weitaus mehr Relevanz, da latentes Bedauern mitzuschwingen scheint, erhält der Nachsatz, dass Aschenbach nie einen Sohn besessen habe. Insgesamt aber wird die markant-kurze Erwähnung der familiären Situation Aschenbachs als Episode ohne aktuelle Bedeutung dargestellt – eine Jugendsünde möglicherweise. Sie unterstreicht den Antagonismus zwischen dem jungen und dem gealterten Künstler. Offenbar als Gegenbegriff zur jugendlichen, aber kaum positiv behafteten Leidenschaft dient die mit dem Alter gewonnene Würde. Leidenschaftslos und würdevoll – also doch der kalte, einsame Künstler? Einsamkeit wird von Aschenbach gesucht, nicht gefürchtet. Gesellschaft lenkt ab, überlagert, führt zu gewöhnlicher Wahrnehmung. Einsamkeit dagegen sensibilisiert, bringt das Ursprüngliche, das Originale hervor, sie zeigt „das gewagt und befremdend Schöne, das Gedicht“. Um die vollkommene Schönheit Tadzios bemerken zu können, bedarf es der Einsamkeit. Wenn Aschenbach schließlich auch seine Leidenschaft für Tadzio entdeckt (oder von ihr entdeckt wird), so erscheint diese plötzliche Emotionalität zunächst wie ein Rückschritt zu vergangenen, unbesonnen-jugendlichen Zeiten. Oder ist schwärmerische Bewunderung mit Würde kombinierbar? Aschenbachs Reaktion auf physische Schönheit unterscheidet sich zunächst kaum von Krögers Verhalten in Relation zu Hansen. Schönheit inspiriert, der Schöne wird somit zur Muse. Vollkommene Schönheit ist zugleich ein Ideal, sie „ist die Sehnsucht dessen, der sich um das Vortreffliche müht“. Wenn das bewunderte Subjekt von anderen ebenfalls bewundert wird (Tadzio wird, wie auch Hansen, von seinen Mitmenschen „begehrt, umworben, bewundert“), steigert dies natürlich nur den Reiz. Vielleicht auch den Stolz.

Aschenbachs Verbindung zu Tadzio als Vater-Sohn-Verhältnis lesen zu wollen, scheint nicht sehr plausibel, dafür ist der homoerotische Aspekt zu vordergründig. Tatsächlich aber lässt sich zumindest mit einer Szene auch gegenteilig argumentieren. Aschenbach sinniert über Tadzios Namen, den er noch nicht kennt, lediglich fragmentarische Fetzen von ihm gehört hat – der Name müsse ungefähr ‚Adigo‘ lauten. Mit Hilfe „einiger polnischen Erinnerungen“ rekonstruiert Aschenbach, dass ‚Tadzio‘ gemeint sein müsse. Unmittelbar nach dieser Namensfindung heißt es: „Tadzio badete.“ Eine Konstellation wie bei einer Taufe: Der Vater, der seinem Kind einen Namen gibt, während dieses sich im oder unter Wasser befindet. Entsprechend betrachtet Aschenbach seinen ‚Sohn‘ wenig später, als Tadzio am Strand liegt, mit „väterlicher Huld“. Der Aspekt der Selbststilisierung durch die Schönheit des zu Bewundernden, der schon für Krögers Verhalten gegenüber Hansen charakteristisch war, findet sich auch in der Aschenbach-Tadzio Beziehung. Die Vollkommenheit des Sohnes dient dem Vater der eigenen Selbststilisierung. Wer sonst als ein außergewöhnlicher Mann könnte einen vollkommenen Sohn erschaffen? An Superlativen fehlt es wahrlich nicht, wenn Tadzio beschrieben wird. Vollkommen, ja geradezu göttlich erscheint er Aschenbach, der dennoch auffällig oft diese Makellosigkeit zu relativieren sucht. Tadzios Haut sticht dann zu hell hervor, sein Atmen klingt dann wie ein Röcheln, wie eine Beklemmung der Brust. Mit einer eigentlich paradoxen Mischung aus väterlicher Fürsorge und „ausschweifender Genugtuung“ konstatiert Aschenbach: „Er ist kränklich, er wird wahrscheinlich nicht alt werden.“ Widerstreitende Emotionen – die Fürsorge einerseits, die Selbststilisierung, sich noch über den Vollkommenen, Gottgleichen stellen zu können, andererseits. Die berauschende Egozentrik, die diesem Gedanken innewohnt, bildet auch außerhalb des Vater-Sohn Kontexts einen zentralen Aspekt. Um eine Ernüchterung zu vermeiden, sucht Aschenbach lediglich eine distanzierte Nähe zu Tadzio. Nur solange er ihn nicht kennt, nicht beurteilen kann, behält dieser seine Funktion für Aschenbach – Sehnsucht ist schließlich nichts weiter als „ein Erzeugnis mangelhafter Erkenntnis.“ Unkenntnis ermöglicht dagegen, den Anschein von Vollkommenheit aufrechtzuhalten. Und Vollkommenheit inspiriert: Aschenbach gelingen „anderthalb Seiten erlesener Prosa“, die „binnen kurzem die Bewunderung vieler erregen sollte.“ Die pragmatische Funktion, die Tadzio erfüllt, ist analog zu Hansen, die einer Muse. Die Leidenschaft, mit der Aschenbach sich (wieder) seiner Kunst widmet, ist aber kaum zu trennen von einer gewissermaßen ethisch-moralisch zu nennenden Leidenschaft. Die Gefahr wird durch sie zum Abenteuer umgedeutet, als eine „Lockerung des bürgerlichen Gefüges“ ausdrücklich begrüßt, während sie einer gesicherten Ordnung und der „Wohlfahrt des Alltags“ als nicht gemäß erscheint.

Wenn Aschenbach die anbrechende Epidemie trotzig ignoriert, sogar fordert, dass das nahende Unheil verschwiegen werden soll, spricht hier weniger der Todessehnsüchtige, als vielmehr ein Individuum, das seine Leidenschaften mit Würde zu kombinieren versucht. Rationalität und Emotionalität, die schon bei Kröger eine spezielle Symbiose eingegangen sind, finden auch bei Aschenbach zueinander. Der Leidenschaftliche heißt die Verwirrung und Heimsuchung, die durch die Epidemie entstehen wird, ausdrücklich gut, weil sie eine vage Hoffnung auf Änderung zulässt, der Würdevolle wird ihr mit stoischer Gelassenheit begegnen. Entsprechend endet auch die Novelle – mit einem sich emanzipierenden Tadzio und mit dem sich einer neuen Art der Vollkommenheit hingebenden Aschenbach. Der junge Mann, unbeaufsichtigt, befreit sich in einem symbolischen Ringkampf aus der Obhut seiner Familie und schreitet fast schon majestätisch auf das Meer zu, während Aschenbach ihn, den Vollkommenen, ziehen lässt: „Am Vollkommenen zu ruhen, ist die Sehnsucht dessen, der sich um das Vortreffliche müht; und ist nicht das Nichts eine Form des Vollkommenden?“ Der Tod, das Nichts, als etwas Vollkommenes, an dem Aschenbach sich (aus-)ruht, während er sich um das Vortreffliche (sein literarisches Werk) müht. Tatsächlich bedeutet Aschenbachs Tod ja keineswegs sein Verstummen als Künstler, etwas überspitzt formuliert könnte man sagen, dass erst mit dem Tod des Künstlers das Werk vollendet wird.

Das Etikett des ‚kalten Künstlers‘ passt wohl auf keine andere Figur so makellos wie auf Adrian Leverkühn. Zugleich aber ist Leverkühn am wenigsten für ein Leben in der Kälte prädisponiert – er ist nicht etwa, wie Kröger, schon durch seine familiäre Herkunft zum auch emotionalen Außenseiter prädestiniert. Aber bereits sein Verhältnis zum Elternhaus ist, ohne dass nachvollziehbare Gründe hierfür ersichtlich wären, nicht sonderlich innig, sondern eher emotionslos und distanziert. Leverkühn, so scheint es, ist schlicht und einfach emotional kalt. Entsprechend wenig überraschend, aber dennoch bemerkenswert, hält der junge Leverkühn nicht die Liebe für den stärksten Affekt, sondern das Interesse. Einer echten, authentischen Emotionalität scheint überhaupt Leverkühns signifikanteste Charaktereigenschaft entgegenzustehen – der Hochmut. Allerdings ist die Überzeugung von der eigenen Grandiosität auch Künstlerfiguren wie Kröger und Aschenbach nicht fremd – nur scheint sie bei Leverkühn noch ausgeprägter, noch bestimmender, in ihren Konsequenzen noch radikaler zu sein. Erstaunlich offen, mit einem Hang zu stilisiert-ironischen Selbstvorwürfen, konstatiert Leverkühn in einem Brief: „Ich fürchte […] ich bin ein schlechter Mensch, denn ich habe keine Wärme. […] ich bin entschieden kalt.“ Aber was genau bedeutet für Leverkühn der Begriff der Kälte? Im gleichen Brief führt er zunächst aus, dass er, der Hochbegabte, sich in der Schule schnell langweilte – und genau diese Langeweile wird von ihm als „das kälteste Ding von der Welt“ identifiziert. Der Begriff der ‚Kälte‘ hat hier also zunächst keinen ausschließlich emotionalen Bezug, sondern ist als Gegenbegriff zum ‚Interesse‘ zu verstehen. Kalte Langweile, Überdruss auf der einen, Neugier und Interesse auf der anderen Seite. Der später konstatierte Mangel Leverkühns „an Wärme, an Sympathie, an Liebe“, kulminiert als „Weltscheu“, basiert entsprechend weniger auf einer emotionalen Disposition als vielmehr auf einem grundsätzlichen Desinteresse an anderen Menschen. Leverkühn sucht ihre Gesellschaft gerade deshalb nicht, weil es sich nicht lohnt. Sie langweilen ihn. Eine potentiell ähnliche Verachtung wie Kröger sie gegenüber der Mittelmäßigkeit empfindet? Zumindest gegen die physische Nähe von Menschen hegt Leverkühn eine starke Abneigung, er wird von seinem Chronisten als ein Mensch der „Abneigung, des Ausweichens, der Zurückhaltung, der Distanzierung“ beschrieben. Folglich enthält der vermeintliche Teufelspakt, der Leverkühn so überraschend wenig aufbürdet, kaum eine strafende Klausel. „Dein Leben soll kalt sein – darum darfst du keinen Menschen lieben.“ Diese Bedingung enthält, wie auch der Teufel freimütig eingesteht, „nichts Neues“ für Leverkühn.

Analog zu Kröger und Aschenbach ist aber auch Leverkühns emotionale Disposition kaum zu trennen von seinem künstlerischen Selbstverständnis. Wenn er von einem „Durchbruch […] aus der geistigen Kälte in eine Wagniswelt des neuen Gefühls spricht“, so ist dieser Satz sowohl auf seine Musik (um die es hier eigentlich geht) als auch auf sein Leben projizierbar. Durchbrochen werden soll oder muss Leverkühns Hochmut, sein Gefühl der Langweile, seine emotionale Abkapselung. Aber warum eigentlich? Als Resultat einer Selbstanalyse, aus Angst vor Stagnation, als kämpferischer Ausdruck einer inneren Unzufriedenheit? Leverkühns Kühle schien ihn bisher weder künstlerisch gehandikapt zu haben, noch die Ursache für ein psychisches Leiden zu sein. Das potentielle Wagnis, einen Ausbruch aus der Kälte einzugehen, fußt wohl auch weniger auf einem plötzlichen Überschwang an Emotionen. Leverkühn verliebt sich nicht, er ist interessierter, manchmal staunender Beobachter. Er ist „voll phantastischen Staunens“ über die Hartnäckigkeit, mit der Schwerdtfeger ihn umwirbt und reagiert mit „Verwunderung“ auf seine „Unbeirrbarkeit“. Leverkühns originäre Emotionalität bleibt verborgen, kryptisch-vielsagend ist lediglich von dem „Entblößen einer Wunde“ die Rede, von einer „schmerzlichen Unverhülltheit“, die Leverkühn in einem Brief an Schwerdtfeger offenbart. Signifikant ist allerdings die Parallelisierung von Leverkühn und Kröger. Wenn im Kontext von Schwerdtfeger seine „blauäugige Belanglosigkeit“ explizit hervorgehoben wird (von einem zugegebenermaßen wenig objektiven und latent unzuverlässigen Chronisten), wird damit an das letztlich belanglose Schwärmen Krögers für Hansen und Holm intertextuell erinnert. Kaum zufällig wird auch Leverkühns Vertraulichkeit zu einem Mann unmittelbar, fast schon abrupt, von der potentiellen Beziehung zu einer Frau abgelöst, die er sogar zu ehelichen gedenkt. Ist Leverkühn am Ende doch noch verliebt? Wohl kaum, schließlich hebt er an seiner künftigen Gemahlin vor allem ihre stimmliche Ähnlichkeit mit der seiner Mutter hervor. Immerhin kennt er ihren Vor- und Zunamen – für den indolenten Leverkühn, der in „größeren Gesellschaften selten den Namen dessen wusste, mit dem er sprach“, eine fast schon bemerkenswerte Sympathiebezeugung. Pragmatische, nicht emotionale Gründe führen dazu, dass Leverkühn sich mit Marie Godeau „ernstlich beschäftigt“. Er wünscht sich das Ende seines Einsiedlerlebens, hat eine „gewisse Angst vor dem Versäumnis, vor dem Zuspät“, er wünscht sich eine menschlichere Lebensluft, kurz – ein warmes Zuhause. Seine Beziehung zu Schwerdtfeger, bei dem er erstmalig „menschliche Wärme fand“ wird von Leverkühn als „Vorstufe“ zum Eigentlichen, sprich der Ehe mit einer Frau, degradiert. Für seine Auserwählte aber ist er lediglich der „interessante Einsame“, auf dessen Werbung sie „merklich kühl, merklich spöttisch“ antwortet. Interesse und Kühle – also genau jene Eigenschaften, die für Leverkühn bisher charakteristisch waren. Entsprechend scheint Godeau eine Spiegelung Leverkühns zu sein und seine Affinität zu ihr lediglich Ausdruck einer narzisstischen Selbstliebe. Die vermeintliche Sehnsucht nach Wärme entpuppt sich also bei genauem Hinsehen als ihr Gegenteil – der fundamentalen Bekräftigung von Leverkühns eigener emotionaler Kälte.

Im Kontext von „Tonio Kröger“ betrachtet ist der weitere Verlauf dieser Dreiecksbeziehung keine große Überraschung. Hier wie dort wird aus genau den zwei Figuren, zu denen der Künstler-Protagonist sich hingezogen fühlt, schließlich ein Paar. Die Tragik der Ablehnung, die Sehnsucht nach unerreichbarer Idealität, die bereits Kröger und Aschenbach künstlerisch inspirierte, wirkt auch bei Leverkühn. Ein „Sturm andringender Ideen“ löst eine künstlerisch-produktive Hochphase aus; Leverkühn beginnt und vollendet gleich mehrere Werke. Ohne die Analogien zwischen den einzelnen Künstlerfiguren überstrapazieren zu wollen, ist auch das Verhältnis zwischen Leverkühn und Nepomuk „Echo“ Schneidewein grundsätzlich ähnlich zu der Aschenbach-Tadzio-Relation. Das kindlich Reine, jugendhaft Unbefleckte wird gleichermaßen in eine überirdische Sphäre transportiert: der göttliche Tadzio hier, das „Gotteskindlein“ Echo dort, das selbstredend das „artigste, fügsamste, unverdrießlichste Kind“ überhaupt ist. Die juvenile Vollkommenheit scheint es zu sein, zu der sich beide Künstler hingezogen fühlen und mit der sie ihren eigenen Anspruch nach künstlerischer Vollkommenheit messen. Zugleich aber sind beide Künstler aber auch Vaterfiguren, deren väterliche Fürsorge allerdings ruinöse Konsequenzen hat. Doch weist Leverkühn weit über seine Vorgänger hinaus. Während Kröger noch haderte, Aschenbach noch (in seiner Jugendzeit) irrte, ist Leverkühn selbstgewiss. Fehlende Wärme, mangelnde Emotionalität werden nicht als Makel, oder Defizit, als Nachteil gegenüber anderen Individuen begriffen, sondern als selbstgewählte Andersartigkeit ausdrücklich begrüßt. Paradoxerweise aber schließen sich demonstrative Distanz und emotionale Nähe am Ende von Leverkühns Entwicklung nicht länger aus. Mag er auch seinem Neffen Echo „ohne Zärtlichkeit“ gegenübertreten, so kann an der engen Bindung zu dem Kind kein Zweifel bestehen. Diese distanzierte Liebe ist erfreulich unpathetisch und bemerkenswert fundiert. Leverkühn nimmt das Kleinkind Echo und das, was es sagt, ernst und reflektiert das Gehörte in einer eigentlich unüblichen intellektuellen Tiefe. Kaum zufällig darf ausgerechnet das Kind zuerst Einblick in Leverkühns jüngstes Werk nehmen. Dieses eher rationale, so wenig kindgerecht anmutende Verhalten wird aber von Echo weit mehr goutiert als das Verhätschelnde, Verniedlichende der anderen Familienmitglieder. Teufelspakt hin oder her – Leverkühns individuelle, eher rationale Emotionalität Echo gegenüber ist deswegen nicht minder tief, nicht weniger intensiv. Er löst vielmehr den Disput zwischen Herzenswärme und Kälte auf eine spezifische Art, die beide Aspekte verbindet. Leverkühn liebt schließlich – mit dem Kopf.

Sonderlich glücklich scheinen sie nur auf den ersten Blick allesamt nicht zu sein, die großen Künstlerfiguren bei Mann. Auch wenn sie Außenseiter sind, auch wenn sie ihre Existenz im Kontrast zur gesellschaftlichen Norm definieren. Das Wissen um die eigene Außergewöhnlichkeit, basierend auf ihren künstlerischen Leistungen, ist eine Triebfeder, die prägend auch für ihre emotionale Disposition ist. Wer mit Hochmut oder latenter Verachtung auf Andere herabsieht, sie als Projektionsfläche der eigenen Großartigkeit missbraucht, sein künstlerisches Schaffen und die Suche nach Inspiration über eine „Liebe, die wärmt“ stellt, mag als „kalter Künstler“ erscheinen. Die Unterordnung der eigenen Emotionalität unter die künstlerische Produktivität, ja eigentlich die bewusste Inszenierung emotionaler Ausnahmesituationen zur Befeuerung der kreativen Entwicklung steht einer spontanen, authentischen Empfindsamkeit diametral entgegen. Einsamkeit und Verzicht aber, so scheint es, befruchten die Kunst. Einsamkeit bedeutet aber auch eine von der Norm abweichende Wahrnehmung, eine erhöhte Sensibilität für das Ursprüngliche. Sie ist weniger Abgeschiedenheit als ein gewähltes Alleinsein. Verzicht bedeutet nicht Keuschheit oder Askese, sondern eine autonome Steuerung von Leidenschaft. Sie schließt Sinnlichkeit nicht kategorisch aus. Dieser Umgang mit der eigenen Emotionalität setzt ein hohes Maß an Mut zur Individualität voraus, immer auch an der Grenze zum Hochmut. Ist es letztlich die Selbstverliebtheit, die als stabilisierender Faktor einem fragilen Künstler-Ich Beständigkeit verleiht? Hochmut, Überlegenheitsgefühle, Selbststilisierung gegenüber einer bürgerlichen Mittelmäßigkeit sind aber sicherlich nicht nur für die Mann’schen Künstlerfiguren konstituierend. Ihre Leidenschaft investieren Kröger, Aschenbach und Leverkühn zwar primär in ihr Werk und in ihre künstlerische Entwicklung, weniger in Relationen zu anderen Menschen. Allerdings ist das Arsenal an Variationen ihrer außerkünstlerischen Leidenschaften durchaus üppig ausgestattet: Sinnliche Exzesse, gleichgeschlechtliche Liebe, väterliche Liebe, Ehe, Kinderzeugung. Eine konstante „Liebe, die wärmt“ hingegen scheint weder gesucht noch vermisst zu werden, da sie kaum in Einklang zu bringen ist mit einer sprunghaften, forschenden Künstlerexistenz. Kälte und Wärme, Emotionalität und Rationalität – diese Zustände gehen eine eigentümliche Symbiose ein, die aber keineswegs in kühler Entsagung wurzelt, sondern vielmehr Ausdruck einer autonomen, individuellen und vor allem selbstgewählten Emotionalität ist.