Unergründete Seelen

Anke Stelling erzählt in ihrem Roman „Horchen“ von einem seltsam provinziellen Liebesverhängnis

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Wesen der Menschen ist unergründlich. Eine der nobelsten Aufgabe von Literatur besteht deshalb darin, diese Unergründlichkeit auseinanderzufalten und sinnlich erfahrbar zu machen. Anke Stelling beschreibt in ihrem Roman „Horchen“ eine Konstellation, die genau dies verheisst.

Die Theaterwissenschaftlerin Katja fühlt sich unglücklich. Als Kind von feinfühligen, ökologisch aufgeklärten Eltern hat sie früh gelernt, dass der Mensch frei sei und auf sich selbst hören solle. Doch diese Freiheit scheint die Dreißigjährige eher zu bedrängen. Im Grunde will sie bloß ein Kind. Von der mütterlichen Erziehungspflicht erhofft sie sich Geborgenheit und Lebenssinn. Doch ihr Freund Lars will nichts überstürzen, weshalb sich Katja alle Optionen offen hält. Etwa mit einem doppelt so alten Professor an der Uni.

Dann auf einmal zieht sie einen Strich. Auf der Suche nach einem Bekannten aus Jugendtagen reist Katja ins östliche Sachsen. Reinhardt war einst Pfarrhelfer in ihrer schwäbischen Heimatgemeinde, als aber ruchbar wurde, dass er mit Konfirmandinnen Sex hatte, wurde er ins sächsische Provinznest Kamenz versetzt. Hier begegnet ihm Katja erstmals nach 15 Jahren wieder, er wirkt noch immer vital, noch immer den Mädchen nachstellend, obwohl er verheiratet und im Dienst der Kirche ist. Katja bewundert ihn und verabscheut ihn in einem Tumult der Gefühle. Was sie mit diesem Besuch bei ihrem alten Jugendschwarm will, weiß sie selbst nicht recht.

In Kamenz trifft Katja auch Gernot, einen ebenso hübschen wie undurchschaubaren Mann, an den sie sich hängt. Liebe? Oder nur die Triebe? Gernot vögelt sie nach eigenen Wünschen, Katja lässt es willig geschehen. Mal fühlt sie sich zärtlich begehrt, so dass vor ihrem inneren Auge ein wunderbares Idyll entsteht: „Ein Tableau, Mann und Frau. Eine unverrückbare Anordnung.“ Ein Tableau mit Kind, notabene! Dann wieder lässt sie sich willig in die Doppelrolle von Hure und Heimchen drängen, was ihr auch keine Mühe bereitet. Sie kocht gerne und begehrt ihn heiß. Erschwerend kommt hinzu, dass Gernot einer Sekte angehört, die sein Wesen zusätzlich verdunkelt. Er betet inbrünstig und fordert Gehorsam gegenüber Gott, auf der anderen Seite beträgt er sich als geiler Bock, der es vor allem auf Katjas Unterwerfung abgesehen hat. Irgendwie löst sich dieses Verhängnis auf, und Katja kehrt nach Berlin zurück – endlich schwanger.

Die Verwirrung der Gefühle einer jungen Frau zwischen Freiheit und traditionellen Rollenmustern ist ein reizvolles literarisches Thema – vorausgesetzt, der innere Zwiespalt wird behutsam ergründet und aufgefächert. Genau das gelingt Stelling aber nur ansatzweise. Katja bleibt ein unzugänglicher, unerforschter Charakteren. Die Motive ihres Handelns verharren im Dunkeln und wirken oft unplausibel, mit dem Effekt, dass sie beim Leser kaum Gefühle der Sympathie wecken.

Trotzdem schwebt die Frage im Raum: Warum nur lässt sich eine junge Frau wie Katja derart demütigen? Die Abhängigkeit von Gernot wirkt bei ihr wie angeworfen, oder angedichtet. Das titelgebende „Horchen“, das sie von den Eltern gelehrt hat, beschränkt sich auf dumpfe Bauchgefühle der Unerfülltheit und der Ratlosigkeit. Ihr gegenüber erhält auch Gernot nur oberflächliche Schattierungen, die nicht weiter vertieft werden. Er selbst mahnt, dass er ein anderer sei, als Katja sich vorstelle. Doch worin besteht dieses Anderssein? Katja erfährt später zwar, dass er an einer Krankheit leidet, sie spricht diese aber nicht aus – und auch die Autorin hilft uns hier nicht weiter. Es bleibt bei der inhaltslosen Behauptung: Irgendwie psychisch krank. Punkt.

Stelling begnügt sich mit der Oberfläche ihrer Figuren und dringt nicht weiter vor. Deshalb berühren sie auch nicht sonderlich. Sie sind wie sie sind. Vor unseren zwar staunenden, doch nichts erkennenden Augen rollt die Geschichte von Katja und Gernot geradlinig, redlich erzählt ab und endet irgendwo in einer alleinerziehenden Mutterschaft mit einem ex-Freund (Lars), der ab und an gerne mal aushilft. Zuweilen klingt das verräterisch nach Sehnsucht nach den alten Familienbildern.

Titelbild

Anke Stelling: Horchen. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
222 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783100725134

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