Das Spinnennetz

Kamila Shamsie schreibt mit „Verglühte Schatten“ einen Roman, der die asiatische Geschichte nach 1945 aus west- wie östlicher Perspektive beleuchtet

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„In früheren Kriegen brannten nur Häuser, doch dieses Mal
Wäre es kein Wunder, wenn sich sogar die Einsamkeit entzündet.
In früheren Kriegen brannten nur Körper, doch dieses Mal
Wäre es kein Wunder, wenn sich sogar Schatten entzünden.“

Es ist diese Strophe aus dem Antikriegsgedicht „Parchaiyaan“ (zu deutsch „Die Schatten“) des im indischen Punjab geborenen, populären muslimischen Dichters und Songschreibers Sahir Lundhiavani (1921-1980), das Kamila Shamsie ihrem neuesten Prosawerk als Motto vorstellt. Dabei ist der Bogen weit, den die 1973 in Karatschi geborene und auf Englisch schreibende pakistanische Schriftstellerin in dem 2009 veröffentlichten Roman „Burnt Shadows“ spannt: Sie thematisiert den Abwurf der zweiten Atombombe auf Nagasaki im Sommer 1945 und das Ende des Zweiten Weltkriegs in Ostasien. Sie beschreibt den Untergang des englischen Kolonialreichs und die Teilung von Britisch-Indien im Jahr 1947. Ferner geht es ihr um die Islamisierung Pakistans und die Unterstützung der Mudjaheddin in ihrem Kampf gegen die Sowjetunion zu Beginn der 1980er-Jahre. Schließlich beendet sie ihren Roman mit den Anschlägen in New York im September 2001 und dem Einmarsch der USA in Afghanistan als Reaktion darauf.

„Repräsentiert“ werden die oben erwähnten (Kriegs-)Schauplätze von den Mitgliedern zweier Familien aus West und Ost, die sich im Lauf der fast sechs Jahrzehnte immer wieder begegnen und durch die Ereignisse nicht nur miteinander verbunden, sondern in ihrer Entwicklung auch stark beeinflusst werden. Auffällig in diesem Zusammenhang ist, dass die beiden Familien ihrerseits nicht homogen sind. So stammen die einzelnen Mitglieder aus verschiedenen Teilen der Welt. Die Figurenkonstellation zu Beginn des Romans soll zur Veranschaulichung kurz vorgestellt werden: Der deutsche Schriftsteller Konrad Weiss flieht zu Beginn des Zweiten Weltkriegs mit Hilfe von Verwandten aus Delhi nach Nagasaki, wo er sich bald in die junge japanische Übersetzerin Hiroko Tanaka verliebt. Der Wunsch der beiden, nach Kriegsende zu heiraten, erfüllt sich nicht. Hirokos Freund wird eines der Opfer der Atombombenabwürfe der Amerikaner. Daraufhin entscheidet sie sich, die nächste Gelegenheit zu nutzen und Konrads Familie in Britisch-Indien zu besuchen. Dort lernt sie neben seiner Schwester Ilse, die sich nunmehr Elizabeth nennt, ihren Ehemann, den Briten James Burton, und einen Muslimen namens Sajjad kennen. Und die Geschichte spinnt sich fort.

Kamila Shamsies Roman ist deshalb so lesenwert, weil es der Autorin gelingt, dem Leser bestimmte Entwicklungen in der modernen Geschichte Asiens nach 1945 nahe zu bringen. Dies geschieht, indem sie die Historie in Figuren transformiert und dabei deren verschiedene Leben- und Denkweise äußerst plastisch darzustellen vermag. Dazu trägt auch bei, dass die handelnden Personen zwar starke Charaktere sind, aber nicht selten dennoch ohnmächtig erscheinen.

„Verglühte Schatten“ betont auf seine Weise die Globalisierung der Politik, das heißt die weltweite Auswirkung lokaler politischer und kultureller Konflikte. Eine Folge ist ein Phänomen, über das seit einigen Jahren eifrig diskutiert wird. Es handelt sich um das Thema der Migration. Ob nun als Deutscher wie Konrad Weiss in Japan, als Japanerin wie Hiroko Tanaka in Indien, als muslimischer Inder wie Sajjad Ali Ashraf später in Pakistan oder als Brite wie James’ Sohn Henry Burton später in den Vereinigten Staaten von Amerika – die Figuren bei Shamsie sind Ge- und Vertriebene, die keine wirkliche Heimat haben und daher nicht selten gezwungen sind, sich „in der Vorstellung von Fremdheit zu Hause“ zu fühlen.

Verbunden durch das Schicksal als Flüchtlinge und „Globetrotter“, die entweder aufgrund von Krieg oder von Berufswegen keine feste Heimat haben, unterscheiden sich die Figuren des Romans allerdings im Hinblick auf die Wahrnehmung der Ereignisse, die ihr (Familien-)Leben über zwei Generationen prägen. Das wird besonders deutlich im Kapitel „Verhüllte Vögel. Delhi 1947“, das stark an E. M. Forsters Roman „A Passage to India“ (1924) erinnert und das Verhältnis von Briten und Indern auf dem Subkontinent thematisiert. Bei Shamsie geht es zwar um das Ende der englischen Kolonialherrschaft, doch ähneln sich beide Romane in bestimmten Punkten: So kritisiert „Verglühte Schatten“ die Fremdherrschaft der Engländer an ihrem Verhalten gegenüber den Einheimischen. So setzten sie beispielsweise unterschiedliche Maßstäbe für die Beurteilung von Herrscher und Beherrschten an, interessierten sich kaum für die Sitten und Gebräuche der Inder, sähen aber umso mehr die eigenen Normen und Werten als für alle verbindlich an.

Die unterschiedliche Sichtweise auch auf die späteren Ereignisse in Pakistan, den USA und Afghanistan zieht sich durch den gesamten Roman. Und das Verhältnis der Familien Weiss-Burton und der Tanaka-Ashraf ist stets davon betroffen. Mal arbeiten ihre Mitglieder auf der gleichen, mal auf der gegnerischen Seite. Shamsie zeigt dies am Beispiel von Pakistan, das der CIA bei der Bekämpfung der Sowjets durch die Afghanen jahrelang als Durchgangsland für ihre Hilfslieferungen an die Mudjaheddin dient. „Verglühte Schatten“ macht deutlich, wie sich bestimmte Entwicklungen in den 1980er-Jahren, die das Ende des Kalten Krieges einleiten, verselbstständigen und wie stark sie noch bis in die Zeit nach dem Zerfall des Ostblocks und auch darüber hinaus wirken.

So verbindet die Autorin in ihrem Buch unterschiedliche Konflikte aus sechs Jahrzehnten miteinander, und zwar so, dass ihr neuester Roman zu einer spannenden Lektüre wird: Liebes- und Familiengeschichten aus Ost und West sind eingebettet in Historie, Imperialismus- und Kolonialismuskritik und dem Thema der Migration, Integration und Interkulturalität. Dabei ist die Stimmung in „Verglühte Schatten“ insgesamt nachdenklich und melancholisch. Das Gefühl des Verlustes ist stets präsent. Ein Gedicht des kaschmirisch-US-amerikanischen Poeten Agha Shahid Ali (1949-2001) aus der Sammlung „A Nostalgist’s Map of America“ (1991), das zu Beginn ebenfalls dem Roman als Motto vorgestellt ist, macht dies besonders deutlich:

„… eine Zeit
sich zu erinnern an
jeden Schatten, alles, was der Erde verloren ging,

eine Zeit, an alles zu denken, was die Erde
und ich verloren hatten, an alles

was ich noch verlieren würde,
an alles, was mir verloren ging.“

Titelbild

Kamila Shamsie: Verglühte Schatten. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer.
Berlin Verlag, Berlin 2009.
479 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783827008312

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