Verschollenes Psycho-Labyrinth

Über „Die Geschichte eines Mordes“ des Musil-Forschers Ernst Kaiser

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Ich ist nicht nur unrettbar, wie Ernst Mach einst sagte, es ist auch leicht zu verwechseln. Als Mach einmal in den Bus stieg, amüsierte der Wiener Physiker sich über einen Mann, der ihm entgegenkam und recht heruntergekommen aussah – bis Mach erkennen musste, dass es sich um sein eigenes Spiegelbild handelte. In Ernst Kaisers Roman „Die Geschichte eines Mordes“ ist es umgekehrt: Ein Mann wacht eines Morgens auf und hält sich für einen Fremden. Voller Schuldgefühle gesteht „Herr Kalm“ einem ungläubigen Kriminalisten einen Mord, obwohl er die Tat gar nicht begangen haben kann und der wirkliche Mörder längst gefasst ist. Woher aber kennt er dann all die Details, die nur dem Täter bekannt sein können?

Für Hermann Broch war der Roman des österreichischen Juden Kaiser „die Schilderung eines schizophrenen Zerfalls“. Als Brochs Gutachten, 1947 für die Bollingen Foundation verfasst, 1975 in seinen „Schriften zur Literatur“ veröffentlicht wurde, war Kaiser bereits seit drei Jahren tot. Der gebürtige Wiener, der 1938 nach London emigriert war, sorgte zusammen mit seiner Frau, der neuseeländischen Germanistin Eithne Wilkins, als Übersetzer maßgeblich dafür, dass das Werk seines Landsmanns Robert Musil nicht in Vergessenheit geriet. An seinem Psycho-Krimi schrieb er seit den 1940er-Jahren. Zusammen mit einem zweiten Teil ist „Die Geschichte eines Mordes“ über 1.000 Seiten lang; erschienen ist der Roman nie, trotz zwischenzeitlicher Interessebekundungen von Suhrkamp und Rowohlt. Bis vor kurzem galt er gar als verschollen, wie der gesamte Nachlass Kaisers.

Dass nun eine Kopie des Romans im Marbacher Literaturarchiv gefunden wurde, ist ein Glücksfall. Ingrid Bachér, die mit den Kaisers befreundet und als Nachlassverwalterin bestimmt war, hat den ersten Teil für die Veröffentlichung bearbeitet und gekürzt. Edgar Allan Poe, Arthur Schnitzler und Leo Perutz dürften Kaiser wesentlich beeinflusst haben, heutige Leser lässt der Roman an die filmischen Psycho-Labyrinthe David Lynchs denken. Kaisers Protagonist, Herr Kalm, ist, um es mit Freud zu sagen, nicht mehr Herr im eigenen Haus – einer Villa mit umfangreicher Dienerschaft; Kalm gilt als reichster Mann der Stadt.

Ungewöhnlich an diesem faszinierenden, bis zuletzt rätselhaft bleibenden Krimi ist nicht nur, dass sich hier einer mit dem Mörder verwechselt, ungewöhnlich ist auch, dass er zu Kriegszeiten spielt. Die Zeitungen sind voller Durchhalteparolen und als ein zunehmend paranoider Kalm das Polizeipräsidium verlässt, wird die Stadt, die namenlos bleibt, aber wohl Wien ist, gerade bombardiert. Kaiser, der selbst in der englischen Armee „gegen Deutschland für Deutschland“ kämpfte, erzählt die Geschichte eines „Kriegsdienstverweigerers“ (wie es doppelt unterstrichen in Kalms Polizeiakte steht), dem aufgrund seines Reichtums die Realität abhanden kam und der nun versucht, gewaltsam zur Wirklichkeit durchzustoßen.

Titelbild

Ernst Kaiser: Die Geschichte eines Mordes. Roman.
Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2010.
416 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783941037212

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