Irony, over

Nicht nur die Literaturkritik, sondern auch die Literaturwissenschaft ist immer noch nicht in der Lage, das Werk Christian Krachts richtig einzuordnen

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Können Sie eine spannende Geschichte schreiben über irgend welche Bergsoldaten die im zweiten Weltkrieg Goldzähne zu Barren verschmolzen haben, und über Komunisten die erschossen wurden weil man noch keine Ausländer hatte. [sic!]

Salvatore Frangipani auf Christian Krachts Facebook-Seite, 11. April 2010, 17:21 Uhr

Der Literaturwissenschaft fehle es an „Stil“, und deshalb könne sie einem Schriftsteller wie Christian Kracht nicht gerecht werden – so urteilte Mara Delius in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ). Immerhin ist mittlerweile ein erster germanistischer Sammelband über diesen umstrittenen Schriftsteller erschienen – allerdings bei Kiepenheuer & Witsch, also jenem Verlag, in dem zufälligerweise auch Krachts Romane publiziert werden, und wohl deshalb lautet auch hier bereits der erste Satz des Klappentextes: „Christian Krachts Stil ist in seiner Eleganz, Ökonomie und Klarheit außergewöhnlich.“

Nun sollte man solche PR-Werbetextchen in Rezensionen besser gar nicht erst zitieren, da sie ohnehin nur dem Verkauf eines Produkts dienen und somit keineswegs ernstzunehmen sind. Doch auch die Herausgeber Johannes Birgfeld und Claude D. Conter scheinen eher hagiografische Ziele zu verfolgen, wenn sie in ihrem Vorwort zu der folgenden universalen Eloge auf ihren Schweizer Lieblings-Autor ansetzen: „Krachts Texte erzählen Geschichten aus aller Welt und über die Weltgeschichte, sie sind reiche, vielschichtige Parabeln auf die Vergangenheit und die Zukunft der Menschheit. Auch deswegen gehört er zu den wichtigsten Vertretern der Gegenwartsliteratur. Kracht entfaltet ein Werk, dessen Konzeption einzigartig in der gegenwärtigen Literaturlandschaft ist. Kaum ein Autor ist so weltmännisch, kaum ein Autor arbeitet mit so radikalen Mitteln daran, die Welt zu verstehen und darzustellen.“

Spätestens hier beginnt man zu begreifen, warum auch Kracht selbst auf gleich mehreren eigenen Websites fleißig auf diesen Band hinweist: Im Großen und Ganzen sind hier nicht etwa kritische Wissenschaftler angetreten, um den überfälligen Startschuss zu einer umfassenden Interpretation von Krachts Literatur zu geben, sondern bloß Claqueure, die fest entschlossen zu sein scheinen, mehr oder weniger alles, was der Meister je schrieb, über den grünen Klee zu loben.

Lutz Hagestedt jedenfalls, der seinen Aufsatz gleich den „Beiträgern von Tristesse royale“ widmet, findet, die Literatur früherer ‚Pop-Literaten‘ wie Rolf Dieter Brinkmann und Hubert Fichte sei längst erledigt, ihre „Ideologie“ habe „abgedankt“, und ihre Literatur sei mit der Krachts sowieso nicht zu vergleichen. Warum? Erraten: Krachts „Stilregister“ erweise diesen Autor „als unabhängigen Kopf, der sich in allen nur denkbaren Formen und Stilen ausprobiert und auf diese Weise sein innovatives Werk stiftet.“ Offenbar ist dabei plötzlich auch von dem empirischen Autor die Rede und nicht mehr nur von seinen Texten: „Kracht ist offensichtlich weder (eigentlich) Pop-Autor noch (ausschließlich) Teil der rasch und routiniert erzählenden Nabelschau-Generation der 1990er Jahre.“ Denn: „Dieser Schriftsteller hat Stil, und sein leises, dezentes und doch geistreiches Auftrittsverhalten zielt auf die Rücknahme der Rolle des Präzeptors, die sich mancher Intellektuelle gewöhnlich zumisst.“

Das klingt ein bisschen so, als sei damit gemeint, dass sich polternde ideologiekritische Linke tendenziell rechthaberisch gäben, und dass sie deshalb auch einfach nicht verstehen könnten, wie man sich zu benehmen habe, wenn man sich auf Augenhöhe von Krachts Habitus bewegen wolle. Mit anderen Worten: Ohne Krawatte kommt der Kritiker hier nicht rein. Womit wir wieder bei der „FAZ“-Argumentation wären. Offenbar haben sich viele Beiträger des Pionier-Bandes tatsächlich überlegt, sie könnten die Deutungshoheit über Krachts Literatur erringen, indem sie dieses Mantra wiederholen und brav das Glaubensbekenntnis nachbeten, sie hätten ‚ohne ideologische Scheuklappen‘ erfasst, was das sei: Krachts „Stil“.

Man kennt das alles zur Genüge aus der dunklen Ecke der Ernst-Jünger-Apologeten, und vielleicht findet sich auch deshalb in Hagestedts Beitrag ein nur auf den ersten Blick dysfunktional anmutendes Zitat aus Jüngers „Arbeiter“: Wer mit der ollen Ideologiekritik kam, der hatte auch bei den Jüngerianern schon seit jeher sein Eintrittsbillet in den erlauchten Elite-Kreis gleich verspielt – und an mancher Uni in Baden-Württemberg, wo die Zahl der Jünger-Forscher, der Jünger-Tagungen und der Jünger-Stipendien von Heidelberg über Marbach in Richtung Bodensee doch merklich zunimmt, wahrscheinlich sogar seine Karriere.

Dabei ist das Problem mit Krachts irritierender Kunst ein ganz anderes: Einer der erhellenderen Texte des Sammelbandes, der von Eckhard Schumacher, handelt vom „omnipräsenten Verschwinden“ des Autors und spürt dem seltsamen Versteckspiel nach, dass nicht nur die Literatur, sondern auch die Internet-Auftritte Krachts bestimmt. Dieser Schriftsteller hat es zweifelsohne vermocht, sich so sehr als schillernde und unnahbare Rätselfigur zu inszenieren, die den Literaturbetrieb an der Nase herumführt, dass selbst Literaturwissenschaftler Autor und Werk nur noch schwer auseinanderzuhalten vermögen, obwohl sie schon im Proseminar gelernt haben, wie unabdingbar solche Unterscheidungen sind. Genauso wie Krachts Romanfiguren am Ende der Texte verschwinden, gebe sich auch Kracht stets unangreifbar, verstellt, maskiert – und wohnte angeblich mal irgendwo in Asien, mal in Afrika, zuletzt in Argentinien. Er wolle dort in die Politik gehen und die Falkland-Inseln zurückerobern, was leider nicht auf friedlichem Wege möglich sein werde, erzählte er etwa bei seinem Auftritt in Denis Schecks TV-Literatursendung „Druckfrisch“ mit einem charmanten Lächeln.

Schumacher kommt nicht umhin zu vermuten, dass viele Postings, die über Kracht auf Websites und in Diskussionsforen zu lesen waren, auch stets vom Autor selbst hätten stammen können. Dieses Phantom lauert einfach überall, und gleichzeitig nirgends. Sein unendlich in sich gebrochenes Gesamtkunstwerk aus Leben und Werk wäre wahrscheinlich dann endgültig perfekt, wenn sich Kracht umbringen würde, und auf seinem Grabstein, neben dem Thomas Manns auf jenem Kilchberger Friedhof bei Zürich, den der Ich-Erzähler am Ende von „Faserland“ so verzweifelt aufsucht, das Motto aus seiner Anthologie „Mesopotamia“, „Irony is over“, eingravieren ließe. Sicher würde es selbst dann wenig später wieder heißen, der Autor sei doch wieder irgendwo in der Welt gesichtet worden, alles sei wohl nur ein Scherz gewesen. Wer weiß.

Wer jedoch Krachts Statements geschmackloserweise weniger lustig findet, macht sich im Ansehen der erlauchten Literaturwissenschaftler lächerlich, weil er nicht kapiert habe, dass die Sottisen dieses Autors sowieso nie ernst gemeint gewesen seien. Die persönlichen Aussagen Krachts glichen schließlich oftmals auffällig denen seiner zynischen Romanfiguren, die auch alle immer nur mit irgendwelchen Himmelfahrtskommandos verschwinden wollen und ihre eigene Auslöschung im Krieg oder im chinesischen Arbeitslager durchaus ambivalent beurteilen, wenn nicht sogar offen begrüßen. Wirkliche Provokationen könne es in diesem vertrackten Verwirrspiel gar nicht mehr geben.

Alle Romane Krachts münden in totalitäre Ideenwelten: Der Protagonist in „1979“, einem Text, der sich der Kulisse der iranischen Revolution im selben Jahr bedient, ist seiner Schicki-Micki-Existenz schließlich mindestens ebenso überdrüssig wie der in „Faserland“ und meint, er sei in jenem chinesischen Folterlager, in dem er am Ende landet, ein besserer Mensch geworden. Wobei er nicht zuletzt darüber froh ist, dort „endlich seriously abzunehmen“.

In der zusammen mit Ingo Niermann verfassten Verschwörungstheorie- und Klimakrise-Satire „Metan“, einem von unverhohlenen rassistischen Vorstellungen nur so strotzenden Manifest, löscht am Ende ein Atombombenabwurf über dem Kilimanjaro wahrscheinlich alles bisherige menschliche Leben aus: „Ein neuerlicher Ausbruch, gepaart mit der nuklearen Verseuchung Ostafrikas, würde eine neue, allen heutigen Menschen überlegene Rasse schaffen. Die genetisch erstarrten und kulturell degenerierten Völker würden hinweggewischt, und eine neue Welt entstünde“, lautet im Text der diesbezügliche darwinistische Plan des Apartheidregimes. Israel, heißt es übrigens einmal an einer anderen, nicht minder zynischen Stelle in „Metan“, habe während des Golf-Krieges irakische Scud-Raketenangriffe selbst simuliert, um eigene Bombardements auf irakische Reaktor-Attrappen zu rechtfertigen: „Die israelische Bevölkerung konnte leicht getäuscht werden, da sie – vor irakischen Giftgasangriffen gewarnt – die meiste Zeit in ihren Wohnungen und Häusern verharrte und sich nur mit von Angstschweiß beschlagenen Gasmasken nach draußen traute.“

In dem letzten Kracht-Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ schließlich kehrt der Protagonist am Ende der Geschichte als ein – durch seine im Krieg erworbenen Führungsqualitäten berufener – Messias auf den afrikanischen Heimat-Kontinent zurück, in dem die ausgerechnet vom schweizer Kolonialstaat ‚zivilisierten‘ Einwohner die modernen Städte wie auf Kommando kollektiv verlassen. Sie finden Erlösung in einem Exodus zurück zur Natur, der verdächtig an die Politik der Roten Khmer in Kambodscha erinnert, deren ,Steinzeitkommunismus‘ ab 1975 Hunderttausende zu den sogenannten „Killing Fields“ führte.

All das sollen jetzt selbstverständlich immer bloß intelligente Zitate sein, die irgendwie subversiv gemeint seien, meinen die Forscher – falls sie in ihren Beiträgen überhaupt auf solche Textstellen oder Motive zu sprechen kommen. Tatsächlich werden reaktionäre Ideen aber nirgends in den Büchern Krachts konterkariert oder von irgendeiner externen Erzählinstanz in Frage gestellt. Glaubt man den Autoren des von Birgfeld und Conter herausgegebenen Bands, die diese verstörenden Elemente in Krachts Literatur meist einfach nur maßlos bewundern, so handelt es sich hierbei um „radikale Erzählexperimente“, die sie wahlweise als „ästhetischen Fundamentalismus“ (Oliver Jahraus), „posthistorische Ästhetik“ (Claude D. Conter) oder auch „antihumanen Ästhetizismus“ (Sebastian Domsch) einstufen. Offenbar soll hier eine neue literarische Avantgarde herbeigeredet werden, deren einziger Held und König Christian Kracht heißt.

Bei Jahraus ist sogar in bizarren Verklausulierungen davon die Rede, Krachts poetisches Programm ziele auf die „radikale Umsetzung des Schönen“, wobei der Autor den „politischen Fundamentalismus, wie er sich beispielsweise in Extremismus und Totalitarismus ausdrückt, als sein reflexives Spielmaterial“ nutze. Conter wiederum meint, die genozidale Rassen-Utopie, die in „Metan“ lanciert wird, laufe in Wahrheit auf eine Gedankenfigur hinaus, wie man sie auch schon aus Theodor W. Adornos und Max Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ kenne.

Anstelle solcher irreführender Holzhammermethoden der literaturwissenschaftlichen Nobilitierung wäre es wirklich an der Zeit, Krachts Literatur endlich einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn die stets sehr minimalistische Sprache und die filmisch anmutenden, schnellen Schnitte in der Handlung der kolportagehaften Bücher Krachts erzeugen einen Sog, dem sich tatsächlich niemand so leicht entziehen kann. Selbst linke Leser dürften manche Ressentiments aus „Faserland“ durchaus goutieren können – einem entgegen seinem Ruf als Bibel angeblich unpolitischer Poppertypen wie Florian Illies tatsächlich enorm konsumkritisch anmutenden Text, in dem pausenlos über die NS-Vergangenheit Deutschlands sinniert und jede ältere deutsche Person vom Erzähler pauschal verdächtigt wird, ein „Nazi“ zu sein. Dieser „Hass auf Deutsche“ fiel zuletzt auch der israelischen Zeitung „Ha‘aretz“ auf, die im Januar aus Anlass einer hebräischen Übersetzung des Romans ein erstaunlich wohlwollendes Interview-Porträt über Kracht publizierte.

Auch „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ ist zunächst einmal ein Roman, der sich in seiner Zukunfts-Fantasie eines 100-jährigen Krieges einer antirassistischen und kommunistischen Schweizer Sowjetrepublik (SSR) gegen das faschistische Deutschland über weite Strecken so liest, als sei er am Reißbrett eines hippen Postcolonial-Studies-Seminars entstanden: Wenn man von den Whiteness Studies einmal die Beobachtung mitgenommen hat, dass in den literarischen Texten der westlichen Welt ‚schwarze‘ Figuren in der Regel immer gleich als solche markiert werden, während man ‚weiße‘ Figuren immer daran erkennt, dass sie gar nicht weiter charakterisiert werden müssen – dann wirkt Krachts Strategie, seinen afrikanischen Protagonisten erst nach und nach durch die abfälligen Bemerkungen der ihm begegnenden rassistischen Figuren überhaupt als ‚Schwarzen‘ erkennbar zu machen, zunächst einmal überraschend.

Doch es frappiert, dass keiner der Autoren in Birgfelds und Conters Sammelband das dem gegenüber stehende essentialistische Ende dieses Romans kritisiert, in dem die Rückkehr zu den Ursprüngen des ‚schwarzen Kontinents‘ die antirassistischen Militärgesetze der SSR endgültig lächerlich erscheinen lässt. Und vor allem scheint bisher überhaupt noch niemand, auch nicht im literaturkritischen Feuilleton, ein handfestes Motiv des literarischen Antisemitismus aufgefallen zu sein, das den Roman letztlich ungebrochen durchzieht: Der Gegenspieler des Protagonisten, der jüdische und aus Polen stammende Oberst Brazhinsky, entpuppt sich am Ende als dekadenter Konterrevolutionär, der die Strippen einer sinistren Verschwörung zu ziehen scheint. Während der Protagonist während seines Marschs zur Schweizer Alpenfestung des Réduits antisemitische Bemerkungen anderer immer sofort maßregelt, muss er an seinem Ziel feststellen, dass Brazhinsky tatsächlich „wahnsinnig“ und böse ist, als dieser ihn umzubringen versucht.

Damit nicht genug: Brazhinsky scheint ein mehrfacher Mörder zu sein, der, um seine Spuren zu verwischen, eine antisemitische Attacke auf seine Gemischtwarenhandlung in Neu-Bern, bei der ein Fenster des Ladens eingeschlagen wurde und jemand mit Schweineblut auf Polnisch „Jude stirb“ an die Türe schmierte, kurzerhand selbst inszenierte. Kracht baut damit neben vielen weiteren Stereotypen ‚des Juden‘ einmal mehr die übliche Verschwörungstheorie der Holocaust-Leugner in seinen Roman ein, die Juden hätten sich die Shoah selbst ausgedacht, um daraus Vorteile für sich zu ziehen.

Solche verstörenden Textbefunde sind mit dem ewig wiederholten Hinweis, Kracht sein ein großer Stilist, Humorist und Satiriker, nicht mehr so einfach wegzudiskutieren. Krachts letzter Roman spitzt außerdem nur weiter zu, was auch in seinen vorherigen Büchern seit „Faserland“ schon provozierte – eine geradezu manische Umkreisung von Propaganda-Motiven aus der Zeit des Nationalsozialismus, deren herausfordernde Affirmation man dringend kritischer unter die Lupe nehmen sollte. Die bemühten Witzeleien über das maoistische Arbeitslager, in das sich der deutsche Protagonist aus „1979“ am Ende deportiert sieht, sind ja letztlich ebenso leicht als notdürftige Verschiebungen einer simplen Täter-Opfer-Umkehr in die asiatisch-kommunistische Welt erkennbar. Ironie hin oder her: Es gibt nach Auschwitz eben doch Scherze, die man nicht mehr einfach nur als poetische Folgen eines im traditionellen Sinne „amoralischen Ästhetizismus“ verharmlosen kann. Gerade Germanisten sollten in der Lage sein, diese simple Tatsache herauszuarbeiten.

Anmerkung der Red.: Der Artikel erschien bereits in leicht gekürzter Form in der „Jungle World“ vom 6. Mai 2010.

Titelbild

Johannes Birgfeld / Claude D. Conter (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009.
287 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783462041385

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