Teilnehmende Beobachtung
Heiko Wernings „Mein wunderbarer Wedding“ ist eine Liebeserklärung an Berlins berüchtigten Stadtteil
Von Jule D. Körber
Wie heißt es doch so schön? Hamburg ist ein Dorf, Berlin besteht aus lauter Dörfern. Die Wahrheit dieser Floskel erkennt man allein schon daran, dass es in Hamburg den Kiez – die Reeperbahn – gibt und in Berlin jeder seinen eigenen Kiez hat. Laut wissenschaftlicher Definition handelt es sich beim Kiez um ein „soziales Bezugsystem“, nicht um eine „Verwaltungseinheit“, wie das bei einem offiziellen Stadtteil der Fall ist. Der Berliner Wedding ist beides, Verwaltungseinheit und soziales Bezugssystem.
Heiko Werning ist dort schon fast eine Immobilie, schließlich wohnt er seit 1991 in dem Stadtteil, über den sich bisher noch nicht mal die Gentrifizierer trauten, herzufallen. Dabei geht das Gespenst Gentrifizierung sonst überall um in Berlin: Der Prenzelberg und Kreuzberg waren in Berlin nur der Anfang der „Stadtteilsaufwertung“, an manchen Ecken von Neukölln wird inzwischen auch schon kräftig saniert. Warum man sich jedoch an den Wedding nicht herangetraut hat, das erfährt man nun genau in „Mein wunderbarer Wedding“ von Heiko Werning.
In seinen Geschichten begegnet man den wehrhaften weiblichen Bewohnern, die sich hier „in hautenge Tops zwängen, die dem Begriff „bauchfrei“ eine neue, geradezu physische Dimension geben, denn dem speckigen Bäuchlein bleibt oft gar keine Möglichkeit, als den Weg in die Freiheit zu suchen, alternativlos quillt es wie Zwiebelmettwurst an der offenen Seite des Kunstdarms heraus, wenn man oben ordentlich draufdrückt“.
Und die männlichen Weddinger sind auch nicht unstylischer:„Männer daneben sind mit ausgefransten Ledermatten behangen und gucken durch die vom U-Bahn-Schacht-Abwind lustig hin und her spielenden Zotteln ihrer Cowboyhütte in die Gegend, während andere so wirken, als seien sie ausgebrochene Exponate eines ZZ-Top-Museums. […] Ältere deutsche Herren sind so zurechtgemacht, als wären sie GIs, die gerade aus dem Irak zurückkehren, und ältere türkische Herren laufen in maßgeschneiderten Anzügen zum Jobcenter, als müssten sie danach noch die Übernahme eines DAX-Konzerns unter Dach und Fach bringen. Ein Mann läuft hier sogar seit Jahren wie Friedrich der Große herum, im vollen preußisch-blauen Wichs, aufwändig geschminkt, mit Dauerwellen-Perücke.“
Und selbst die migrationshintergründigen Jugendlichen sind bei Werning so authentisch, dass sie schon fast der Baudrillard‘schen Hyperrealität entsprechen – echter als die Realität, der Wedding ist das HDTV der Brennpunktsoziologie:
„Migrationshintergründische Jugendgangs tragen bizarre Kopfrasuren zur Schau, blenden den Betrachter mit einem Weiß, bei dem sich die gute alte Tante Clementine schamhaft in ihre Waschküche verkrochen hätte, oder stopfen sich in seltsam aufgeplusterte Jacken, die sie von Weitem aussehen lassen, als würde sich das Michelin-Männchen mit seinen Kumpels zum Plausch treffen“.
Werning begnügt sich dabei natürlich nicht nur mit den treffenden Beschreibungen seiner Nachbarn. Der Langzeitstudent ist ja schließlich fast-Akademiker und liefert auch gleich die treffenden Analysen:
„Niemand hat diese Menschen gezwungen, so nach draußen zu gehen. Im Gegenteil: Dem nackten Entsetzen zum Trotz, das ihnen im Rest der Welt entgegenschlagen würde – sie haben Aufwand und Mühe in Kauf genommen, sich so zurechtzumachen. Viele der Frauen mussten erhebliche körperliche Anstrengungen auf sich nehmen, um den glitzernden Synthetik-Stoff über die Beine zu bekommen, Präzisionsarbeit war erforderlich, um die Hosennaht so exakt zwischen die Schamlippen zu drapieren. Die Islamerjungs bringen ohne Zweifel viele Stunden in der Woche damit zu, mehrmals am Tag ihre Klamotten zu wechseln, damit sie immer im strahlenden Weiß leuchten, ganz zu schweigen von all den Goldkettchen, die abends ordentlich abgelegt und morgens in der richtigen Reihenfolge wieder installiert werden müssen, ohne dass sie sich verheddern. Kurzum: Es ist der freie Wille all dieser Menschen, so herumzulaufen. […] Und dazwischen bewegen sich noch all diejenigen, denen alles egal ist. Die halt mit dem vor die Tür gehen, was gerade dran ist, […] in Textilien, für die ich gar kein passendes Vokabular kenne. […] Mögen die Hintergründe, die die Menschen hier zu dieser entspannten Einstellung gebracht haben, auch fragwürdig sein – ist es im Ergebnis denn nicht eine wunderbare Vision?“
Man sieht: Heiko Werning liebt seinen Kiez – und dass er auch über Reptilien schreibt, merkt man in jeder einzelnen Geschichte des Bandes. Eigentlich möchte man jede zweite Zeile zitieren, man möchte diese Sätze wegen ihrer Genauigkeit immer mit sich herumtragen und sagen: Die hat jemand geschrieben, der die Dinge von ihrem Inneren heraus erforscht. Ein Wilder unter Wilden, der sich auch gerne mal darüber amüsiert, wie der Blick von außen auf seine Heimat fällt – zum Beispiel, wenn er zum erneuten Male Journalisten durch den Stadtteil führen muss, damit die ihre Ghetto-Reportage auch richtig hinkriegen.
Und immer wieder tauchen Figuren auf, die richtige Weddinger Originale sind, wie der türkische Restaurantbetreiber, der die Marktlücke der gutbürgerlich-deutschen Küche entdeckt, der von Paranoia geplagte Alkoholiker Backen oder der bezirksbekannte Wahnsinnige, den alle nur „den Kapuzenmann“ nennen und vor dem selbst die „korrekten Migranten, die wissen, was von ihnen erwartet wird“ Respekt haben. Und wenn all das dann auch noch auf Wernings Probleme mit der Steuerbehörde trifft und man ihm dabei zusehen darf, wie er versucht, seinen Sohn davon abzubringen, sterbende Ratten niedlich zu finden, entsteht aus seiner Perspektive der perfekte alternative Wedding-Reiseführer.
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