Poetische Ortserkundungen

Lutz Seilers feines Gespür für Zeiten, Räume und Wortnuancen schillert auch in seine Erzählungen

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange hat man auf diesen ersten Erzählungsband des als Lyriker weithin geschätzten Bachmann-Preisträgers des Jahres 2007 gewartet. Das Warten hat sich gelohnt: die Lektüre seines feingesponnenen Erzählkosmos’ ist ein fesselndes Lesevergnügen. Nun warten wir auf weitere Erzählungen Seilers – oder auf den größeren Roman, von dessen Entstehung im Peter-Huchel-Haus, das Seiler als Programmleiter bewohnt, vorübergehend geraunt wurde.

‚Turksib‘ lautet der erratische Titel der Geschichte, mit der der ausgewiesene Lyriker Seiler überraschend und doch völlig zu recht den Ingeborg Bachmann-Preis gewann. Sie berichtet von einer phantastischen Eisenbahnreise in postsowjetische Provinzen. Der Ich-Erzähler führt einen Geigerzähler mit sich, dessen Knistern, Schnarren und Wispern zu der unheimlichen Atmosphäre auf dieser Reise Richtung Kasachstan erheblich beiträgt. In diesem exzentrischen Chronotopos einer Reise durch die Weiten der Post-Sowjetunion ereignen sich phantastische Begegnungen. Der Heizer des Zuges grüßt den als Deutschen identifizierten Erzähler militärisch, fixiert ihn mit seinen Blicken und beginnt, mit heftigstem Akzent Gedichtzeilen von Heine aufzusagen: „Ihrrweiss niehrrt, wahs sohlbe deute, ….“.

In einer „Art Fischgesang“ rezitieren der Deutsche und der fremde Heizer dieses Gedicht, das offenbar zum ganz persönlichen, eigenen Klagegesang des Arbeiters geworden war. Diese spukhafte Begegnung eines fremdgewordenen Eigenen endet mit heftigen Umarmungen nebst Heine-Versen durch den Heizer: „ich spürte das warme, unrasierte Kinn des Heizers an meinem Hals, dazu Lippen und ihre murmelnde Feuchte auf Ohr und Wange, begleitet von einem dunklen Verschlusslaut, der überging in ein kurzes, unterdrücktes Schluchzen: ,Koohmt-nierrh- aus-Sienn‘; ich erzitterte.“ Es hat Kafka`sche Größe, wie Seiler die in Hass umschlagende Verwirrung des Deutschen ausformuliert, der von dem germanophilen Heizer der Turksib-Eisenbahn umarmt wird, bis ein Schlag beide durchs Abteil fliegen lässt. – Seiler fabuliert hier höchst anschaulich eine ins Körperliche gewendete psychologisch-interkulturelle Gemengelage, die den desorientierten Erzähler am Ende in ein subtil erotisch konnotiertes Festhalten an seiner Übersetzerin Zuflucht, Halt und Beruhigung suchen lässt. Eindringlichere Vorstellungs- und Sprachkunst findet sich in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur kaum.

In der den Band eröffnenden Erzählung „Frank“ erinnert sich ein Mann, wiederum fern der Heimat an der amerikanischen Westküste, im Zuge seines Ehe-Endes an komische Begebenheiten bei seiner Hochzeit. Die zweite Erzählung setzt dieses mit dem gemischten Pathos aus Freiheit und Verlust aufgeladene Szenario einer Trennung mit Kind fort: „Seit es für sie möglich geworden war, zu reisen, hatten sie sich mit jedem Ziel weiter hinaus gewagt und, wie ihm schien, weiter voneinander entfernt; jetzt sehnte sich Färber nach irgendeiner Grenze. Er dachte an ihre erste Reise in den Westen, an die Kathedrale von Metz….“. Faszinierend ist, wie Seiler ganz dezent, beinahe zwischen den Zeilen durch kleine Indizien und motivische Hinweise das melodramatisch emotionale Geschehen einer Entfremdung und Trennung sanft gedämpft darstellt.

Um Tod und Ende, aber auch um Kindheit und Anfänge dreht sich die Geschichte „Der Kapuzenkuß“. Sie versetzt sich mit gespenstisch anmutender Evokationskraft zurück in die Schulzeit, in eine Welt, die sich um unbeholfen angehimmelte Mitschülerinnen drehen, um einen furchterregenden jungen und einen legendenumrankten alten Hausmeister. Ein zweiter, junger Hausmeister verwaltet hier im Heizungskeller das Fundbüro der Schule und zwingt die Schüler und insbesondere den Erzähler, der regelmäßig seine Siebensachen verliert, präzise Beschreibungen der verlorenen Gegenstände zu formulieren. Der gefürchtete Hausmeister und seine Asservatenkammer werden so zu einer Vorschule des Schriftstellers, der an diesem düsteren Ort zur Beobachtungskunst und zur Wahl treffender Worte genötigt wird.

Schultaschenkontrollen und die Beschlagnahmung verbotener Dinge (etwa Fussball-Sammelbilder aus dem Westen) strukturieren das Schulgeschehen und prägen die Individuen. „Denn nur so wurde alles verständlich: Was wir uns im wiederholten Verstoß gegen die Hausordnung unserer Schule erwarben, erdannelten sozusagen, war eine echte Teilhabe, eine klar erkennbare Rolle im Regelkreis der Schule. Dieser Regelkreis von Kontrolle, Strafe und Verbrennung, der das Funktionieren unserer Schule im Inneren aufrechterhielt, benötigte Schund&Schmutz, den Stoff des Verbotenen, und von niemand anderem als uns konnte Schund&Schmutz regelmäßig geliefert werden… Was wir im Zuge der täglichen Ranzenkontrolle auf eine mutige Weise erstanden, war ein echte, klar benennbare Schuld, eine Schuld, die sinnvoll zu unserem Leben beitrug, weil sie uns Konturen verlieh im dahinströmenden Magma dieser Zeit und, indem wir sie uns zu eigen machten, beinahe freisprach von einer diffusen, ganz allgemein und offensichtlich angeborenen Schuldigkeit, die uns von Kindesbeinen an niederdrückte. Auf diese Weise erzeugte der Ofen einen Sog. Immer umfänglichere Lieferungen verbotener Dinge wurden frisch herbeigeschafft und in die Schule getragen.“

Die Annäherungsversuche ans andere Geschlecht werden in dieser Schule in Form aufdringlicher Wettbewerbe überfallartigen Küssens inszeniert; manche bringen es darin zu ungeahnten Meisterschaften. Diese Schulhofhelden küssen bei der ‚Jagd‘ genannten Machoübung bis zu sieben Mädchen in einer Schulpause, während es der schüchterne Erzähler nur zu einem halb missratenen Kuss auf die Kapuze einer angeschwärmten Mitschülerin bringt.

Seiler hat ein gutes Auge und ein großes Herz für Verlierer; seine Erzählungen berichten liebevoll von Prozessen des Scheiterns, in die sich seine Antihelden des Alltags verstricken. So ertrinkt in „Der Stotterer“, ein kettenrauchender Autoschrauber und Außenseiter einer Garagengemeinschaft bei seinem tollkühnen Versuch, sein geliebtes Auto in einem Hochwasser, das die Garagen überflutet, zu retten. Doch nicht nur das Ereignis ist ein besonderes, vielmehr fesselt dessen Perspektivierung durch einen kindlichen Beobachter, der zaghaft Kontakte zum stotternden Außenseiter angebahnt hatte. Die Kurzgeschichte „Der Badgang“ erzählt in überwältigender, nahezu filmischer Bildhaftigkeit von den Gedanken, Gefühlen und Schmerzen, die ein Mann durchlebt, der sich beim Aufstehen den Kopf so heftig blutig schlägt, dass er es nicht überleben wird.

Die Erzählfolge „Schachtrilogie“ erinnert in ihrer ersten Geschichte an eine in DDR-Verhältnissen mühsam organisierte Datsche. Hier spielte der Erzähler mit seinem Vater so lange männlich kommunikationsfaul Schach, bis der Junge den Vater erstmals besiegte. Der Mittelteil des Dreierpacks, das ums interaktive und doch antagonistisch agonale Schachspielen kreist, erinnert eine Freundin des Erzählers, die zu seinen Studienzeiten eine brillante Schachspielerin war und bald eine Liebesbeziehung mit ihm einging. In dieser engen Beziehung verschweigt der Erzähler seine eigenen Schachkünste. Das meisterlich perspektivierte Finale dieser „Gavroche“ betitelten Geschichte verdichtet die Trauer und Unbeholfenheit, die aus der überraschenden Nachricht vom Tod dieser Ex-Geliebten resultieren. Den Abschluss der Schachtrilogie bildet die Geschichte „Der gute Sohn“. Atmosphärisch ungemein suggestiv inszeniert auch diese den Rückblick auf unwiderruflich Vergangenes: Kindheitserinnerungen an das Akkordeonspiel im Orchester der thüringischen Uranbergwerke, an ehrgeizige, doch nicht sehr erfolgreiche, autodidaktische Übungen im Hochsprung und an die Rückkehr des völlig fremden Vaters aus der Kriegsgefangenschaft, den der Sohn nicht erkennt. Auch diese Geschichte verzeichnet so beiläufig wie prägnant Spuren der Geschichte als Erinnerung an Verluste. Der Leiter des Akkordeonorchesters verschwand einst am 17. Juni mitsamt allen Notenmaterialien in den Westen. Das Kindheitsdorf Culmitzsch wurde von den Baggern des Uranbergbaus verschlungen.

Die Titelerzählung „Die Zeitwaage“ kehrt zurück in die unmittelbare Nachwende-Zeit 1990, als in Berlin Mitte zahlreiche leerstehende Wohnungen und Häuser besetzt wurden und neue Kneipen sich in den noch unsanierten Häusern einnisteten. Der Protagonist jobbte als Kellner und Koch in einer solchen Kellerkneipe auf der Oranienburgerstraße und erlebte den Tod eines Arbeiters, der mit seiner Hebebühne an die Oberleitung der Straßenbahn gerät und elendig vor zahlreichem Publikum leiden muss. Teile dieser Erzählung hatte Seiler auch schon in seinem Aufsatz „Und sonntags dachte ich an Gott“ verarbeitet. Und denselben Titel (nebst der Motivik eines spannungsverarbeitenden Trafohäuschens) trug zudem auch ein Gedicht aus Seilers famosem Lyrikband „pech & blende“. An Seilers Fortschreiben zentraler Erinnerungsmotive lässt sich seine Poetik einer insistierenden Spracharbeit an prägenden Erfahrungskernen ablesen.

Eingeschoben in die „Zeitwaage“-Erzählung vom Neuanfang in Berlin, bei dem eine möblierte Altbauwohnung angeeignet wird, die vermutlich einem eilig in den Westen Gegangenen gehörte, sind kurze Passagen, in denen es um die Reparatur einer „Spezimatic“ Uhr aus Glashütte geht, die so alt ist, wie der Autor Seiler, Jahrgang 1963. Eine Zeitwaage ist ein Messgerät, mit dem die Unregelmäßigkeiten eines mechanischen Uhrwerks überprüft werden können. Der Titel dieses Erzählbandes spielt mithin auf die verschiedenen Zeitebenen und Erinnerungsschichten und womöglich auch auf die seismografischen und abwägenden Kunstfertigkeiten bei der literarischen Rekonstruktion dieser vergangenen Zeiten an. Neben dieser dezent symbolischen Überdeterminierung inszeniert der Titeltext Beobachtungen über das gemischte Szene-Publikum, dessen einer Teil endlos palavernd in den Kneipen sitzt und Projekte macht, während der andere Teil tatsächlich etwas geschafft hat und von Arbeit erschöpft auf ein spätes, schnelles Bier einkehrt.

Die Erzählung rückt zudem auch die Niederschrift des Arbeitertodes ein, die der Erzähler unmittelbar nach diesem Ereignis in der Kneipe unternahm. Der schreckliche Unfall trug offenbar zur Dichter-Initiation bei und offenbart sich als erzählerisch wie poetologisch raffiniert umkreister Erfahrungskern. Am Schluss der Geschichte räumt der Ich-Erzähler sein Gefühl des Versagens ein. Er gesteht, wie er angesichts seiner Hilflosigkeit am Ende dieses Tages erstmals seit der Kindheit ernsthaft den Gedanken erwog zu beten. Zu beten nicht nur für den qualvoll gestorbenen Arbeiter, sondern darüber hinaus auch zu beten „für den Fortgang meiner Geschichte“.

Dieser nicht ganz leicht verständliche Satz ist der letzte des motivisch fulminant dichten und sprachmächtigen Erzählungsbandes. Der Leser möchte sich diesen Gebetswünschen unbedingt anschließen. Wir sind gespannt auf weitere Geschichten Seilers – oder gar auf einen Roman, an dem sich der Erinnerungs- und Sprachvirtuose aus dem Huchelhaus in Wilhelmshorst tatsächlich versuchen könnte.

Titelbild

Lutz Seiler: Die Zeitwaage. Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
288 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783518421154

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