Die Angst des Biografen vor dem Nichts

Zu Louise Welshs neuem Roman „Das Alphabet der Knochen“

Von Peter MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die britische Autorin Louise Welsh sorgte im Jahre 2002 mit ihrem Debüt „The Cutting Room“ (deutsch: „Dunkelkammer“) für Aufsehen, was zwei Jahre später bei der Verleihung des medienwirksamen internationalen Buchpreises Corine mit dem „Rolf Heyne Debütpreis“ honoriert wurde.

Bis 2006 ließ die Geschichtswissenschaftlerin, die derzeit als Dozentin für Kreatives Schreiben an der Universität in Glasgow tätig ist, zwei weitere Romane folgen, die Welshs Talent für lebensnahe, millieutreue Schilderungen in literarisch anspruchsvollem Gewand bestätigten.

Auch die ihrem vierten Roman zugrunde liegende Idee birgt einiges an Potential: Murray Watson ist Literaturwissenschaftler an der Universität in Glasgow und stolpert während des Studiums über einen Lyrikband von Archie Lunan. Wie sich herausstellt, ist es dessen erster und einziger Band, denn Lunan starb jung, als er beim Segeln in einen Sturm geriet und über Bord ging. Fasziniert von der Sprache des Dichters beschließt Murray, eine Biografie des Verstorbenen zu verfassen und beginnt nach Informationen zu suchen. Im Zuge seiner Recherchen kommt es, wie es in einem Kriminalroman kommen muss: die ohnehin spärlichen Spuren verlaufen größtenteils im Sande. So wächst Murrays Befürchtung, dass sein Projekt aufgrund mangelnder Fakten zu keinem guten Ende kommen wird und er letztendlich vor dem Nichts steht.

Diese Entwicklung spiegelt sich auch in seinem Privatleben wieder. Nicht nur seine Geliebte versetzt ihn, es kommt auch zu Streitigkeiten mit seinem Bruder Jack, dessen Kunstinstallation neben Fotomontagen zudem eine Videoaufnahme ihres senilen Vaters zeigt und diesen damit in der Öffentlichkeit vorführt. Durch die Parallele zu Murrays Projekt drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob Biografien tatsächlich dem Gedenken des Verstorbenen dienen sollen oder ob sie vielmehr Ausdruck der Aufmerksamkeits(sehn)sucht des Biografen sind, der sich auf Kosten eines fremden Lebens profiliert. Leider wird dieser Ansatz nicht konkret weiterverfolgt, weshalb die Beziehung zwischen den beiden Brüdern – mit Zerwürfnis und Versöhnung – letztendlich doch sehr blass bleibt.

Das Einfangen der depressiven Grundstimmung gelingt der Autorin trefflich – und dass sie ein Talent zum bildhaften Beschreiben besitzt, zeigt sie auch in diesem Roman: „Die Sonne stand jetzt voll am Himmel, nur noch wenige rosafarbene Streifen verschmierten das Blau. Das Morgenlicht glitzerte auf dem Kelvin River und fing sich in den Bäumen, deren Blätter in allen Facetten von Grün und Gelb leuchteten. […] ja, es war wirklich wunderschön.“  Allerdings verlieren sich diese Passagen im doch sehr kalkulierten ersten Teil zwischen diversen schmutzigen Kaschemmen und langatmigen Dialogsequenzen, wodurch die Geschichte nur schwer Fahrt aufnimmt.

Hinzu kommen einige Wiederholungen, was wohl dem Lektorat oder der Übersetzung zuzuschreiben ist. So bemerkt Murray „die völlig entglittenen Gesichtszüge von Vic“ und bereits zwölf Seiten später sieht Lyle aus „als würden ihm gleich die Gesichtszüge entgleisen“, zudem wird mehrmals in einem Lächeln das Mädchen von früher gesucht oder gefunden, um nur zwei der auffälligeren Redundanzen zu nennen.

Gar merkwürdig mutet Murrays Entschlüsselung der Notiz „Interessiert am Jenseits“ an, als Audrey scharfsinnig das Jenseits mit dem Leben nach dem Tod verknüpft, während sich der Literaturwissenschaftler, aufgrund Lunans Plan, einen Science-Fiction-Roman zu schreiben, fragt: „Wurde das Weltall nicht manchmal als Jenseits bezeichnet?“

Deutlich besser gelungen ist der zweite Teil des Romans, denn Murrays Aufenthalt auf der Insel Lismore,  wird mit viel – natürlich vorzugsweise düsterem – Lokalkolorit geschildert und weckt im Leser die Hoffnung, dass die Geschichte zwischen den „mit Scheiße besprenkelten Weiden“ nun langsam ins Rollen kommt. Im weiteren Verlauf gelingt es Welsh allerdings nicht, eine sich organisch entwickelnde Handlung zu entwerfen, vielmehr wirkt vieles äußerst bemüht und konstruiert. Dies ist für das Krimigenre natürlich nichts Ungewöhnliches, in der im vorliegenden Fall präsentierten Häufigkeit aber doch irgendwie des Guten zu viel.

Murray gastiert etwa ausgerechnet bei Mrs. Dunn, die seinerzeit in Lunans Cottage unfreiwillig Erfahrung mit Rauschmitteln sammelte und sich vage an okkultisch anmutende Rituale erinnert. Er läuft dann auch noch zufällig einem Archäologen über den Weg, der zusammen mit Murrays Exfreundin studierte, was trotz der Tatsache, dass Lismore für archäologische Ausgrabungen bekannt ist, im gegebenen Zeitfenster sehr unwahrscheinlich ist. Christie, die ehemalige Beziehung von Lunan, betritt gerade in dem Moment den einzigen Laden mit Internetzugang, als Murray eine Sammlung pornografischer Bilder betrachtet und Jack erscheint schließlich auch noch als Deus Ex Machina, obwohl die Situation auch nachvollziehbarer zu lösen gewesen wäre.

Es bleibt das Gefühl, dass hier ein höchst interessanter Ansatz verschenkt wurde: Als fiktive Biografie gibt die Geschichte nur unbefriedigende Informationen über den Künstler preis, als Psychogramm des im Leben zu scheitern drohenden Murray bleibt sie oft oberflächlich, als Exkurs über Sinn- und Unsinn der Verknüpfung von Werk und Leben eines Künstlers liefert sie keine Antwort und als Kriminalroman hat sie einfach zu wenige überraschende Wendungen zu bieten.

Titelbild

Louise Welsh: Das Alphabet der Knochen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Wolfgang Müller.
Verlag Antje Kunstmann, München 2010.
430 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783888976766

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