Epiphanien des Alltags

Über Ingo Schulzes italienische Skizzen „Orangen und Engel“

Von Ulrike WeymannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Weymann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die in Orangen und Engel versammelten Kurzgeschichten geben die Italien-Eindrücke eines Schriftstellers wieder, der als Stipendiat der Villa Massimo mit seiner Frau Tanja und den beiden Töchtern Anna und Paula in Rom weilt. Diese biografische Station teilt der Ich-Erzähler mit dem Autor der Italienischen Skizzen, und dennoch verlassen die Geschichten schnell das autobiografische Fahrwasser. Aus dem Alltag des Ich-Erzählers entwickeln sich Erzählungen des Allgemeinen und Überindividuellen, wobei die Erzählanlässe zufällig ausgelöste Schnappschüsse assoziieren. Anstelle der in jedem Reise- und Kunstführer beschriebenen Sehenswürdigkeiten fangen die Geschichten Alltägliches ein, aus dem heraus sich jedoch Einsichten in die Realität und die Lebensweise des modernen Italiens entwickeln. Für die literarischen Momentaufnahmen mag gelten, was Tanja an den Reiseberichten Raymond Roussels reizvoll findet, nämlich dass sich die Geschichten abseits der typischen Touristenrouten und ausgehend vom Unspektakulären entwickeln. Die Geschichten sind also weniger literarische ‚Urlaubsfotos‘ als Impressionen des Alltags, wie sie auch die den Band begleitenden Fotos von Matthias Hoch wiedergeben. Und dennoch verweisen sowohl die Skizzen Schulzes als auch die Fotos von Hoch auf Strukturen, die über den Moment der ‚Aufnahme‘ hinausweisen.

Die Fotografien etwa zeigen öffentliche Plätze, auf denen nichts zu sehen ist als das Muster des Pflasters oder der Innenhof eines Restaurants, der mit eingedeckten Bistrotischen für einen Empfang gerüstet ist, jedoch noch ebenso wenig mit Besuchern bevölkert ist, wie der in geometrischer Anordnung mit orangefarbenen Plastikstühlen und großer Leinwand für ein Public Viewing-Event vorbereitete öffentliche Platz. Genau wie die literarischen Beschreibungen verweisen die Fotos auf vom Alltag losgelöste, überzeitliche Strukturen. In Schulzes Geschichten lösen die Alltagsbeobachtungen Epiphanien aus, die Einsichten in gesellschaftliche, soziale und politische Zusammenhänge vermitteln, ohne dass sie dabei ein rundes und abgeschlossenes Bild vermittelten oder gar eine Lösung anzubieten hätten. Ein Zitat, das im Text im Zusammenhang mit Marées Fresken in der „Statione Zoologica“ in Neapel fällt, illustriert sowohl die Text-Bild Relation als auch den Zusammenhang der einzelnen literarischen Skizzen inOrangen und Engel“: „Sie treten in Beziehung zueinander, ohne eine [kohärente] Geschichte zu erzählen.“

Die literarischen Skizzen vermitteln einen sinnlichen Eindruck vom italienischen Leben. Beschrieben werden die „warmen dunklen Farben der Fassaden“, die „hellen Himmelsstreifen zwischen den Dachrinnen, die Wäscheleine und die Möwen und Tauben, die man für Taschentücher halten könnte, die der Wind losgerissen und in die sonnenlose Bläue gewirbelt hatte“. Dieser glücklichen Unbeschwertheit kontrastiert in der titelgebenden Skizze „Orangen und Engel“ die Not der farbigen Prostituierten. Und auch während eines Sizilien-Urlaubs in „Sie haben ihr Ziel erreicht“ geht es vor dem Hintergrund mythischer Landschaften, von denen nicht nur Seumes Spaziergang nach Syrakus, sondern auch Thukydides Geschichte des Peloponnesischen Krieges berichten, um das Schicksal eines afrikanischen Immigranten. Von den vergangenen Schlachtplätzen und den Orten der abendländischen Kultur Italiens, wie sie die Literatur, insbesondere die Idyllen- und Arkadienliteratur des 18. Jahrhunderts beschreibt, bleiben bei Schulze nur mehr intertextuelle Anklänge übrig. Berühmte Ausgrabungsstätten, etwa Pompeji oder Randazzo, gewinnen in „Orangen und Engel“ über den Bildungskontext der klassischen Italienreise hinaus Bedeutung, weil hier das Vergangene zur Gegenwart hin durchlässig und von Schulze mit aktuellen Themen wie Migration, Bürgerkrieg oder den Arbeitsmarktbedingungen einer globalisierten Welt verknüpft wird.

So ist etwa das Nationalmuseum in Neapel nicht Ort der Vergangenheit, sondern der Gegenwart, die in Gestalt demonstrierender Arbeitsloser triumphiert. Sie halten den Balkon besetzt, um dort ihre Spruchbänder zu entrollen. Die Ausstellung mit Bildern von Lawrence Alma-Tadema, einem Maler und Zeichner des akademischen Realismus aus dem 19. Jahrhundert, muss aufgrund dessen geschlossen werden. Tademas Form der Realismusdarstellung hat aber wohl nichts ohnehin nichts mehr mit der Gegenwart zu tun, wie der Erzähler, der einen Bericht über die Ausstellung schreiben soll, feststellt: „Als Phänomen interessierte es mich, dass da einer im Zeitalter der Fotografie an einer Art Vedutenmalerei festhielt und seine Salongäste, die vielleicht mit der Eisenbahn angereist waren, im antiken Gewand auf die Leinwand brachte.“

Die Realismusdarstellung des deutschen Malers und Grafikers Hans von Marées kommt den Vorstellungen des Ich-Erzählers dagegen schon näher: „Marées hatte etwas Alltägliches in Kunst verwandelt. […] Die Orangen waren Orangen, und zugleich waren sie die Äpfel der Hesperiden und die Paradiesfrucht“, liest man bei Schulze. Diese Feststellung trifft auch auf seine Geschichten zu. Aus dem Alltäglichen entwickeln sich originelle Geschichten, wie etwa die von dem rumänischen Gastarbeiter, der den Erzähler zwar um die Barschaft seiner Geldbörse erleichtert, ihm dafür jedoch eine Geschichte wie aus Tausendundeiner Nacht schenkt. Die Geschichten des Villa Massimo-Stipendiaten basieren auf genauer Beobachtung, sie verbinden Alltägliches mit Zeitlosem, Banales mit Erhabenem und Motive der klassischen Italienreise mit Szenen aus der Populärkultur. „Orangen und Engel“ ist ein tiefsinniges Buch, das sprachlich, thematisch und in der Verbindung von Wort und Bild gelungen ist. Es vermittelt, wozu lediglich Kunst und Literatur in der Lage sind: ästhetische Einsichten, und bereitet überdies Lesespaß: Die zum Teil skurrilen Figuren, wie etwa Ralf, den wunderlichen Freund des Erzählers aus der titelgebenden Geschichte, würde man gerne einmal treffen!

Titelbild

Ingo Schulze: Orangen und Engel. Italienische Skizzen.
Mit Fotografien von Matthias Hoch.
Berlin Verlag, Berlin 2010.
189 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827009166

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