Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie besser Ihren Arzt!
Anmerkungen zur Patientenverfügung
Von Dirk Kaesler
Wenn Sie jetzt Ihr bisheriges Leben vor dem inneren Auge Revue passieren lassen, zu welcher Einschätzung kommen Sie? Sind Sie eher enttäuscht? Wenn Sie nochmals von vorn anfangen könnten, würden Sie es anders führen?
Wollen Sie möglichst lange leben? Oder ist Ihnen die Qualität des Lebens wichtiger als die Lebensdauer, wenn beides nicht in gleichem Umfang zu haben ist? Welche Wünsche und Aufgaben sollen noch erfüllt werden? Wovor haben Sie Angst im Hinblick auf Ihr eigenes Sterben?
Wie sind Sie bisher mit Krankheit oder Schicksalsschlägen fertig geworden? Was hat Ihnen in schweren Zeiten geholfen? Wenn es die Beziehungen zu anderen Menschen waren, welche Rolle spiel(t)en Familie oder Freunde für Sie? Können Sie Hilfe gut annehmen? Oder haben Sie Angst, anderen zur Last zu fallen? Welche Erfahrungen haben Sie beim Erleben von Leid, Behinderung oder Sterben anderer gemacht? Lös(t)en solche Erlebnisse Angst bei Ihnen aus? Was wäre für Sie die schlimmste Vorstellung?
Wir nähern uns dem Kern dieser sehr persönlichen Fragen: Was bedeutet Ihnen Glaube angesichts von Leid und Sterben? Was kommt nach dem Tod, Ihrer Meinung nach?
Es sind nicht die Vorahnungen eines trüben, nebligen Novembertags, die mich diese Fragen im sonnigen August stellen lassen. Es ist ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs (Aktenzeichen: Bundesgerichtshof 2 StR 454/09) vom 25. Juni 2010. Dieses Urteil markiert einen Wendepunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Mit diesem Urteil erhebt der 2. Strafsenat des BGH mit seiner Vorsitzenden Richterin Ruth Rissing-van Saan den Anspruch, das Selbstbestimmungsrecht der Patienten gestärkt zu haben. Die Karlsruher Robenträger urteilten, dass (im strafrechtlichen Sinne) eine entsprechende Einwilligung des Patienten sowohl das Unterlassen (weiterer) lebenserhaltender Maßnahmen rechtfertigt als auch die aktive Beendigung einer von dem Patienten nicht (mehr) gewollten Behandlung. Die zur Straffreiheit führende Einwilligung könne bei einem nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten zuvor in einer Patientenverfügung oder sogar in einer mündlichen Äußerung gegeben worden sein. Der Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens sei nicht strafbar. Nicht mehr strafbar, muss man hinzufügen!
Im Entscheidungsfall war es die Tochter einer Patientin, die seit 2002 in einem Pflegeheim im Wachkoma lag, die im Dezember 2007 auf Anraten ihres Rechtsanwalts den Ernährungsschlauch ihrer Mutter durchgeschnitten hatte, und sich dabei auf den allein mündlich geäußerten Willen ihrer Mutter berief. Das zuständige Landgericht Fulda hatte das Handeln von Tochter und Anwalt als einen gemeinschaftlich begangenen versuchten Totschlag durch aktives Tun gewürdigt, der nicht nach den Grundsätzen der Nothilfe oder des rechtfertigenden Notstandes gerechtfertigt sei. Das Landgericht sprach die Tochter frei, da diese sich angesichts des Rechtsrats ihres Anwalts in einem unvermeidbaren Erlaubnisirrtum befunden und deshalb ohne Schuld gehandelt habe. Der einschlägig spezialisierte Anwalt jedoch könne sich nicht auf einen entschuldigenden Notstand und Erlaubnisirrtum berufen. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung jedoch zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der Verurteilte hatte Revision beantragt, er wurde nun freigesprochen.
Der Grund für diesen Freispruch war ein (angeblich) von der Patientin mündlich für einen solchen Fall geäußerter Wunsch nach Einstellung der künstlichen Ernährung, um „ein Sterben in Würde“ zu ermöglichen. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen in Fällen aktueller Einwilligungsunfähigkeit von einem bindenden Patientenwillen auszugehen sei, war zur Tatzeit durch miteinander nicht ohne weiteres vereinbare frühere Entscheidungen des Bundesgerichtshofs uneindeutig. Divergenzen in der bisherigen Rechtsprechung betrafen die Verbindlichkeit von sogenannten Patientenverfügungen und die Frage, ob die Zulässigkeit des Abbruchs einer lebenserhaltenden Behandlung auf tödliche und irreversibel verlaufende Erkrankungen des Patienten beschränkt oder von Art und Stadium der Erkrankung unabhängig ist.
Es war nicht übertrieben, dass Simone Utler für Spiegel Online titelte: „Recht revolutionär“. Bisher war die Rechtsprechung zur Sterbehilfe alles andere als eindeutig gewesen, und auch deshalb war die Gefahr für Angehörige, Ärzte und Pflegekräfte groß, als Mörder oder zumindest Totschläger verurteilt zu werden – obwohl sie einfach nur helfen und den Willen eines Patienten umsetzen wollten. Mit dem von vielen herbeigesehnten Urteil sei, so die vielfach zu lesende Einschätzung, „mehr Rechtssicherheit“ in Deutschland erzielt worden: Wenn ein Patient in einer schriftlichen oder mündlichen Verfügung eine lebensverlängernde Behandlung ablehnt, muss sie eingestellt werden. Egal, ob bei dem Behandlungsabbruch etwas aktiv geschieht oder etwas unterlassen wird – Ärzte, Pfleger und Angehörige machen sich damit nicht strafbar. Die Grenze zur Tötung sei nicht überschritten. Die Karlsruher Richter unterschieden zwischen „der auf eine Lebensbeendigung gerichteten Tötung“ und Verhaltensweisen, „die dem krankheitsbedingten Sterbenlassen mit Einwilligung des Betroffenen seinen Lauf lassen“. Das Urteil sei ein Meilenstein der Klärung strittiger Fragen zur so genannten „Sterbehilfe“.
Bei dieser Entscheidung scheint mir grundsätzliche Nachdenklichkeit angebracht zu sein: Kann das Urteil nicht auch ganz anders interpretiert werden? Könnte es sein, dass es hier zwar auch um die Stärkung des Patientenwillens ging, doch gleichzeitig ein neoliberales Einfallstor weit geöffnet worden ist, das die Möglichkeiten eines „sozialverträglichen Ablebens“ erweitert? Ob die Karlsruher Hohen Richter wohl bedacht haben, dass der Kostendruck auf Ärzte und Klinikleitungen schon jetzt so enorm ist, dass alle – im diesem Falle sogar vom Patienten gewünschten und selbst vorab verfügten – Maßnahmen zur Kostenreduzierung gerade in der kostenintensivsten Phase am Lebensende den Krankenkassen und Kaufmännischen Direktoren der Kliniken zumindest zupass kommen dürfte?
Im Zentrum der aktuellen Debatten steht die Patientenverfügung. Bislang war es in der Rechtsprechung heftig umstritten, ob Ärzte und Betreuer sich bei der Umsetzung des Patientenwillens durch „aktives Tun“ strafbar machen, wenn sie etwa Magensonden zur künstlichen Ernährung entfernen, weil das Strafgesetzbuch die Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) verbietet. Der medizinische und juristische Laie fragte sich schon seit Längerem, wo letztlich der Unterschied liege, ob ein Arzt eine Ernährung nicht fortsetzt, also etwas unterlässt und damit passiv handelt, oder ob er den Schlauch, durch den die Nahrung fließt, abklemmt, also etwas Aktives unternimmt. Das Ergebnis war jedenfalls dasselbe: Der Patient stirbt.
Der Gesetzgeber hat diese Fragen nun durch das genannte Patientenverfügungsgesetz ausdrücklich neu geregelt. Gemäß dem „Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts“, das seit 1. September 2009 wirksam ist, ist bei der Anordnung lebenserhaltender Maßnahmen verbindlich, was der Betroffene in einer Willenserklärung festgelegt hat. Dem Gesetz zufolge sind nicht nur Vorgaben für tödlich verlaufende Krankheiten, sondern für jede Art Behandlung verbindlich. Gibt es keine schriftliche Patientenverfügung oder betreffen die Festlegungen nicht die aktuelle Situation, muss der Bevollmächtigte des Patienten unter Beachtung des (mutmaßlichen) Patientenwillens entscheiden, ob er in eine Untersuchung, eine Behandlung oder einen ärztlichen Eingriff einwilligt.
Der BGH-Senat konnte daher frei entscheiden, ohne an frühere Entscheidungen anderer Senate gebunden zu sein. Der im September 2002 (angeblich) geäußerte mündliche Wunsch der Patientin, von dem ihre Bevollmächtigten berichtet hatten, entfalte bindende Wirkung und stelle nach dem seit dem 1. September 2009 geltenden Gesetz die Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs dar. Dies gilt jetzt, wie inzwischen § 1901 a Abs. 3 BGB ausdrücklich bestimmt, unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung. Die von den Betreuern geprüfte Einwilligung der Patientin rechtfertigte nicht nur den Behandlungsabbruch durch bloßes Unterlassen weiterer Ernährung, sondern auch ein aktives Tun, das der Beendigung oder Verhinderung einer von ihr (angeblich) nicht mehr gewollten Behandlung diente.
Nun stellte auch der BGH fest: Es ist irrelevant, wie die Behandlung abgebrochen wird. Allerdings präzisierte er den aus seiner Sicht „ungewissen und konturlosen Begriff“ der passiven Sterbehilfe durch den von Patienten gewollten „Behandlungsabbruch“. Dabei dürfe es nicht auf die „Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln ankommen“, sagte Ruth Rissing-van Saan. Es hänge oft von Zufällen ab, ob eine lebensverlängernde Behandlung unterlassen oder später aktiv beendet werde. Der übergeordnete Begriff sei der Behandlungsabbruch – und der sei gerechtfertigt, wenn er dem Patientenwillen entspreche. Ärzte dürfen dem rechtskräftigen Urteil zufolge auch dann lebensverlängernde Maßnahmen abbrechen, wenn der unmittelbare Sterbevorgang noch nicht begonnen hat. Mitnichten haben die Richter aber die „aktive Sterbehilfe“ freigegeben. Das heißt: Wer eine Giftspritze auf Verlangen des sterbewilligen Patienten setzt, macht sich auch weiterhin strafbar.
Bedeutet diese Rechtssicherheit nicht, dass das bislang sakrosankte Verbot der „aktiven Sterbehilfe“ rhetorisch fortgesetzt werden kann und die an sich straffreie Beihilfe zum Suizid weiter verfolgt wird? Wo liegen die entscheidenden Unterschiede im selbstbestimmten Patientenwillen? Bestenfalls noch in der Umsetzung – wie es zuvor auch bei der eher rein akademischen Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen der Fall war. Zudem bleiben Fragen stehen: Wer legt die so entscheidende Patientenverfügung wann und in welcher Form vor? Kann es wirklich sein, dass ein Angehöriger mitteilt, dass der Kranke schon früher immer gesagt hat, er wolle niemandem zur Last fallen, er wolle kein unwürdiges Dahinvegetieren und kein qualvolles Leiden in den Fängen der Apparatemedizin, und dass daraufhin die Ärzte die künstliche Ernährung einstellen? Die bisherige Praxis in Deutschland war derart, dass verantwortungsvolle Ärzte zwar solchen Stimmen aufmerksam zuhörten, im Entscheidungsfall jedoch „auf Nummer sicher“ gingen und die Behandlung fortsetzen – schon um sich vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen.
Wir wissen es alle, es kann jedem von uns geschehen, dass wir von heute auf morgen in eine Situation geraten, die der der Komapatientin ähnelt. Viel zu wenige von uns denken daran, Vorsorge für weniger gute Zeiten zu treffen – nämlich für den Fall, dass sie infolge eines Unfalls, einer schweren Erkrankung oder durch Nachlassen der geistigen Kräfte im Alter ihre Angelegenheiten nicht mehr wie gewohnt selbst regeln können. Dabei ist in anderen Bereichen Vorsorge für uns selbstverständlich – so etwa bei der finanziellen Absicherung durch Vermögensbildung oder Versicherungen vielfältiger Art. Jeder von uns muss sich die Frage stellen, wer im Ernstfall Entscheidungen für ihn treffen soll, wenn er selbst vorübergehend oder auf Dauer nicht mehr hierzu in der Lage ist, und wie seine Wünsche und Vorstellungen auch zukünftig Beachtung finden können.
Eine Patientenverfügung ist offenbar von entscheidender Bedeutung geworden, die Recherche beginnt. In 0,14 Sekunden weist Google 375.000 Treffer zum Stichwort „Patientenverfügung“ aus: Der erste Eintrag führt zu „meineVorlage.de“, wo man für EUR 4,90 eine „Neue Patientenverfügung“ downloaden kann, und für EUR 2,90 eine „Vorsorgevollmacht“ und für weitere EUR 2,90 eine „Betreuungsverfügung“ bekommt. Wer kennt schon die Unterschiede?
Ich downloade also die einschlägige Broschüre des Bundesministeriums der Justiz – warum eigentlich nicht das Bundesministerium für Gesundheit? – „Patientenverfügung. Leiden – Krankheit – Sterben. Wie bestimme ich, was medizinisch unternommen werden soll, wenn ich entscheidungsunfähig bin?“
Freundlich lächelnd begrüßt mich die Frau Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), und spricht mich direkt an: „Jeder Mensch hat das Recht für sich zu entscheiden, ob und welche medizinischen Maßnahmen für ihn ergriffen werden. […] Ärztinnen und Ärzte brauchen für jede Behandlung die Zustimmung des Betroffenen. Das gilt für Einleitung wie für die Fortführung einer Therapie. Solange der kranke Mensch noch entscheidungsfähig ist, kann er selbst dem Arzt diese Zustimmung geben oder verweigern. – Wie stellt man aber den Willen eines Menschen fest, wenn er nicht mehr in der Lage ist, seinen Willen zu äußern? Wer in einer solchen Situation nicht möchte, dass ein anderer über das Ob und das Wie der ärztlichen Behandlung entscheidet, kann in einer Patientenverfügung festlegen, ob er bei einem konkret beschriebenen Krankheitszustand bestimmte medizinische Maßnahmen wünscht oder ob sie unterlassen werden sollen.“
Die 42seitige Broschüre soll denjenigen Hilfestellung leisten, die eine solche individuelle Patientenverfügung treffen wollen. Deshalb findet der Leser in der Broschüre kein fertiges Formular, sondern Empfehlungen mit Textbausteinen, mit denen man seine individuellen Entscheidungen formulieren könne.
Diese detaillierten Empfehlungen zur Patientenverfügung wurden von der Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ unter der Leitung von Klaus Kutzer, einem ehemaligen Vorsitzendem Richter am Bundesgerichtshof, entwickelt. Beim Durchzählen komme ich auf 30 Personen, die bei dieser Arbeitsgruppe mitarbeiteten. Der kumulierte Sachverstand und die praktische Erfahrung von Ärzten, Juristen, Vertretern aus der Hospizbewegung sowie aus Wohlfahrts-, Patienten- und Verbraucherschutzverbänden und den beiden großen Kirchen sind in diese Empfehlungen eingeflossen, die im Juni 2004 vorgelegt wurden.
Zu Recht mahnt die Frau Ministerin: „Nehmen Sie sich Zeit, diese schwierigen Fragen in Ruhe für sich selbst zu überdenken und die dabei auftauchenden Fragen mit Ihrem Hausarzt oder mit Menschen in fachkundigen Organisationen zu besprechen. Diese Broschüre soll Sie anregen und unterstützen, rechtzeitig für den Ernstfall Vorkehrungen zu treffen.“
Derart vorbereitet macht sich der „Liebe Mitbürger“ an die Lektürearbeit zu den einschlägigen Fragen: Was ist eine Patientenverfügung? Brauche ich unbedingt eine Patientenverfügung, was sollte ich bedenken? Welche Form muss meine Patientenverfügung haben? Wie bekommt die behandelnde Ärztin oder der Arzt meine Patientenverfügung? Muss meine Patientenverfügung beachtet werden? Warum sollte ich meiner Patientenverfügung auch eine Beschreibung meiner persönlichen Wertvorstellungen beifügen? Wie kann ich noch vorsorgen, wenn ich nicht mehr selbst entscheiden kann? Wo kann ich mich näher informieren? Wie formuliere ich eine schriftliche Patientenverfügung?
Es scheint nichts zu fehlen, sogar „Handreichungen für eine schriftliche Patientenverfügung“ und Empfehlungen für deren Aufbau und zahlreiche Textbausteine folgen auf sechs engbedruckten Seiten. Den empfohlenen Ausführungen über „die eigenen Lebenseinstellungen und Wertvorstellungen“ habe ich übrigens meine einleitenden Fragen entnommen. Wenn es also darum geht, dass ich in einer Patientenverfügung im Voraus für den Fall meiner Entscheidungsunfähigkeit festlege, ob und wie ich in bestimmten Situationen ärztlich behandelt werden möchte, muss ich in der Lage sein, die Textbausteine und ihre Konsequenzen überhaupt zu verstehen. Und das genau ist der Knackpunkt der ganzen Situation: Woher soll ich als medizinischer Laie wissen, was es bedeutet, wenn ich etwa bei Frage 2.3.4 „Künstliche Flüssigkeitszufuhr“ zwischen diesen drei „Wünschen“ zu entscheiden habe: a) eine künstliche Flüssigkeitszufuhr, b) die Reduzierung künstlicher Flüssigkeitszufuhr nach ärztlichem Ermessen, c) die Unterlassung jeglicher künstlichen Flüssigkeitszufuhr?
Gerade mit Blick auf das aktuelle BGH-Urteil ist meine Unsicherheit bei diesen Fragen fatal, möglicherweise im wörtlichen Sinn, nämlich tödlich. Es konnte ja nicht überraschen, dass die Frau Ministerin mit der Karlsruher Entscheidung zutiefst zufrieden war und erklärte: „Die heutige Entscheidung schafft Rechtssicherheit bei einer grundlegenden Frage im Spannungsfeld zwischen zulässiger passiver und verbotener aktiver Sterbehilfe. Es geht um das Selbstbestimmungsrecht des Menschen und damit um eine Kernfrage menschenwürdigen Lebens bis zuletzt. Mit dem heutigen Urteil hat der Bundesgerichtshof dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen zu Recht einen besonders hohen Stellenwert eingeräumt. Das Selbstbestimmungsrecht ist Ausfluss der durch das Grundgesetz geschützten Würde eines jeden Menschen – auch des Sterbenden. Die heutige Entscheidung stellt klar: Der freiverantwortlich gefasste Wille des Menschen muss in allen Lebenslagen beachtet werden. Es gibt keine Zwangsbehandlung gegen den Willen des Menschen. Niemand macht sich strafbar, der dem explizit geäußerten oder dem klar festgestellten mutmaßlichen Willen des Patienten, auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten, Beachtung schenkt. Das heute abgeschlossene Verfahren macht daher auch die Bedeutung von Patientenverfügungen deutlich. Der Deutsche Bundestag hat dazu im vergangenen Jahr eine wegweisende Entscheidung getroffen und Patientenverfügungen eine klare rechtliche Grundlage gegeben. Patientenverfügungen schaffen in einer schwierigen Phase des Lebens Sicherheit für Patienten, Angehörige, Ärzte und Betreuer. Die Patientenverfügung hilft, dass der freiverantwortlich gefasste Wille des Menschen bis zu Letzt beachtet werden kann – auch und gerade dann, wenn der Mensch nicht mehr entscheidungsfähig ist.“
Noch wiege ich mich in der Illusion, meinen freiverantwortlich gefassten Willen artikulieren zu können. Die Patientenverfügung, als schriftliche Festlegung einer volljährigen Person, ob sie in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen ihres Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (§ 1901a Absatz 1 BGB), jedoch überfordert meine Fähigkeiten. Also ging ich zu meinem Hausarzt, um mit ihm über alle Positionen im Fragenkatalog zu sprechen, ob ich „Lebenserhaltende Maßnahmen“ zulassen möchte, wie ich mir die „Schmerz- und Symptombehandlung“ vorstelle, was ich halte von „Künstlicher Ernährung“, „Künstlicher Flüssigkeitszufuhr“, „Wiederbelebung“, „Künstlicher Beatmung“, „Dialyse“, „Antibiotika“, der Gabe von „Blut/Blutbestandteilen“ und dem Ort des Sterbens.
Er hat mich davon abgebracht, diesem detaillierten Entscheidungspfad des Bundesjustizministeriums zu folgen. Er meint, ich sollte mehr Vertrauen in die Kompetenz und den Behandlungsauftrag der Ärzte und das Wissen meiner Bevollmächtigten setzen. Seine Skepsis gegenüber den juristisch aufbereiteten Detailfragen hat mich überzeugt, ich habe eine ganz simple Verfügung formuliert: Die Ärzte mögen alles medizinisch Mögliche unternehmen, um mich am Leben zu erhalten und meine Beschwerden zu lindern. Und dazu gehören sowohl die Aufgabe, meine Krankheit zu heilen, mein Leben zu erhalten und zu verlängern, als auch die Aufgabe der Palliativmedizin, mir ein friedliches Lebensende zu ermöglichen, bis hin zum ärztlich assistierten Suizid als einer Form der Sterbebegleitung.
Auch der angeführte ehemalige BGH-Richter Klaus Kutzer sagte nach Verkündigung des aktuellen Urteils, dass es noch viele Unsicherheiten gebe: Was etwa, so fragte er, sei in Fällen, in denen der Behandlungsabbruch lebenserhaltende Maßnahmen betrifft, mit deren Hilfe der Patient wieder gesund geworden wäre? Beispielsweise Bluttransfusionen, die häufig etwa von Zeugen Jehovas abgelehnt werden, oder die Gabe von Antibiotika bei einer Lungenentzündung, was manche Menschen in ihrer Patientenverfügung ausschließen. Wenn es sich also nicht um die Konstellation einer „irreversiblen“, sondern einer heilbaren Erkrankung handelt, die nur deshalb zum Tode führt oder führen könnte, weil lebenserhaltende Maßnahmen nicht ergriffen oder abgebrochen werden, zuweilen auch „aus Kostengründen“. Man könne ja in vielen Fällen nicht ausschließen, dass der Patient doch wieder gesund würde, so Kutzer: „Was dann gelten soll, ist eine offene Frage.“
(Noch) ist niemand verpflichtet, eine Patientenverfügung abzufassen. Und gewiss ist es nicht einfach, sich mit existenziellen Fragen auseinander zu setzen, die Krankheit, Leiden, Sterben betreffen. Sicher sollte man dabei bedenken, dass in bestimmten Grenzsituationen des Lebens Voraussagen über das Ergebnis medizinischer Maßnahmen und mögliche Folgeschäden im Einzelfall kaum möglich sind. Das Leben, wir wissen es alle, ist lebensgefährlich, auch weiterhin.